Nach langer Zeit der Ungewissheit und der Wortlosigkeit versuche ich mich mal wieder an einem Thema, das mich aktuell bewegt.

Wenn man ein Leben lang sehr schlecht sieht, sich mit einem Körper in der Welt positioniert, der nicht funktioniert wie diejenigen der Umgebung, dann mag es eine Zeitlang dauern, sich neu in eben dieser Welt zu justieren oder diese und ihre Parameter neu zu betrachten, sobald sich dieses Sehen verbessert. Wenn dazu noch ein Umstand kommt, so dass man nicht mehr als Schlechtsehende identifiziert wird, weil die Fehlstellung der Augen operativ korrigiert wurde, dann potenziert sich diese Verwirrung erst einmal massiv. So bin ich noch immer erst begrenzt dazu in der Lage, die Veränderungen zu benennen, zu beschreiben und ihre Folgen zu interpretieren, kurz, ich bin gerade recht angestrengt und immer wieder sehr verwirrt.

Gut, dass es in diesem meinem Leben Fixpunkte gibt, anhand derer ich vollzogene Veränderungen identifizieren kann – und auch nicht stattgefundene Veränderungen.

Solche neuralgische Punkte meines Arbeitsalltags stellen Fachtagungen dar: in ungewohnter Umgebung Dutzende Menschen kennen zu lernen oder – was heikler ist – bereits zu kennen, sie aber nicht wiederzuerkennen, ist wohl etwas vom Komplexesten, mit dem ich mich auseinanderzusetzen habe.

Nun reiste ich jüngst gemeinsam mit meinem Arbeitsassistenten zu einer Tagung in eine deutsche Kleinstadt, in der sich die Fachcommunity traf. Ca. 100 WIssenschaftlerinnen und Wissenschaftler diskutierten drei Tage in einem Gebäude, das von seiner Beschaffenheit nachgerade ideal für meine optische Einschränkung war: Eingang, ca. 10 Stufen in den ersten Stock, offenes Foyer, eine Anmelde- und Infotheke, nur zwei Tagungsräume, die direkt nebeneinander lagen, Toiletten im Keller, die ca. 10 Stufen wieder hinab und weitere 10 ins Untergeschoss. Bedeutete also, ich konnte mich frei entscheiden, ob ich Vorträge hören, mit Kolleg_innen plaudern, rauchen, Kaffee trinken oder ihn wegbringen wollte, ohne Hilfe von irgendjemandem zu benötigen. Ich freute mich. Sofort schließt sich hier für mich die Frage an, wie eine Tagung gestaltet wäre, damit ich den maximalen Wert davon mitnehmen könnte. Denn die Menschen waren natürlich wie immer: in den allermeisten Fällen unbekannte Gesichter, obwohl ich wahrscheinlich (!) die Hälfte der Anwesenden bereits gesehen, mit ihnen gesprochen oder sogar einen Abend beim gemeinsamen Empfang oder Essen verbracht hatte.

Nun ist das wahrlich kein neues Problem, und ich habe es hinreichend in vergangenen Beitrögen thematisiert. Nach einem beinahe halben Jahr in meiner Wohnung, in der ich, zuletzt reichlich ungeduldig, auf meine Genesung der drei Augenoperationen ausgeharrt hatte, wurde ich womöglich etwas größenwahnsinnig. Ich habe vielleicht die Annahme entwickelt, das bessere Sehen vieler Dinge – des Sternenhimmels, meiner eigenen Zehen in der Dusche (man kann nicht mit Kontaktlinsen duschen, wohl aber mit Implantaten) oder von der Verschiedenartigkeit von Nasen (das dreidimensionale Sehen ist jetzt nicht völlig ausgeprägt, jedoch um ein Vielfaches erhöht zu vorher, wo ich alles nur flach gesehen habe) würde mir auch einen Tagungsbesuch erleichtern. Und das war auch defintiv der Fall. Wege mit Bahn und Bus, Rangieren meines Körpers zwischen Tischen, Stühlen, Fahrrödern, Autos, Straßenschildern und Pollern war längst nicht mehr so mühsam, auch wenn sie mir vorher nicht persönlich vorgestellt worden waren, wie das an meinem Wohnort tausendfach stattgefunden hat. Aber das zentrale Problem, die Menschen, blieben eben wie sie sind, für mich nicht erkennbar.

Was es auf einer solchen Tagung bedeutet, Menschen nicht zu erkennen, will ich hier kurz skizzieren. Erstens bin ich auf Gespräche mit denen angewiesen, die ich gut und daher wiedererkenne, gleichzeitig möchte ich mich von den Gefahrenzonen wie vollen Kaffeetassen oder nah am Tisch abgestellten Flaschen oder Gläsern fernhalten, um keine Dramen zu produzieren. Gibt es also keine bekannte Person in einem Umkreis von 2m (weiter reicht meine Sicht nicht), die außerhalb der Gefahrenzonen steht, bemühe ich mich darum, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, wenn ich allein stehe. Daher unterhalte ich mich dann recht oft mit dem Organisator der Tagung, der darauf bedacht ist, sich mit gerade denen zu befassen, die für sich sind, damit auch sie sich wohlfühlen. Die Frage, ob sich also jemand mit mir unterhält, weil er sich für mich und meine Ansichten – bspw. zum letzten Vortrag – interessiert oder ob er nur höfliche Konversation betreibt, ist nicht einfach zu beantworten.

Allein oder mit dem bekannten Tagungsorganisator zusammenzustehen, ist allerdings die geringste Herausforderung. Als viel heikler stellen sich Situationen dar wie folgende: Ich stehe mit Kollegin Lohse zusammen, die ich selbst auf der Tagung ansprechen konnte, da sie wie stets bei solchen Anlässen die gleiche lindgrüne Jacke trägt, und unterhalte mich angeregt. Wir werden von einem Kollegen angesprochen, der sich für ihr jüngst herausgegebenes Buch interessiert. Er schüttelt ihr die Hand und stellt sich vor, worauf ich ihm ebenfalls die Hand schüttle und mich vorstelle. Er meint etwas genervt: „Ja, wir kennen uns schon.“Darauf erwidere ich: „Ja wir kennen uns von der letzten Tagung…“ Obwohl ich keine Ahnung hatte, ob, wann, wo und vor allem worüber ich mich mit ihm unterhalten habe. Er wendet sich auch sofort wieder von mir ab und beginnt eine Unterhaltung mit Kollegin Lohse über ihre Publikation.

Noch heikler: In der U-Bahn auf der Fahrt zum gemeinsamen Abendessen komme ich mit einer Professorin ins Gespräch, die total beleidgt ist, dass ich sie für so jung halte, dass sie als Studentin durchgeht, indem ich sage: Wer ist ist bei Ihnen in Bamberg jetzt auf der Professur? Das bin ich, antwortet sie völlig indigniert, und als jemand sie beschwichtigen möchte, dass sie das doch als Kompliment nehmen soll, giftet sie nur, dass sie so jung nicht sei und nur das Neonlicht der U-Bahn Schuld sei (das bekanntermaßen extrem ungnädig zu uns jenseits der 40 Befindlichen ist), das sie jünger erscheinen lässt. Nun mit eben dieser Professorin will ich mich am kommenden Morgen gern noch ein bisschen weiter unterhalten, da sie einen interessanten Studiengang beschrieben hat, aber da niemand in der U-Bahn dabei war, den ich am nächsten Morgen noch identifizieren kann, nicht mal die spontan ernannte Begleitperson, die dann kostenfrei mit mir mitgefahren ist, verschwimmen alle Personen, mit denen ich abends zuvor im Gespräch war, in Meer der unbekannten Gesichter ohne Anknüpfungspunkt.

Als mir morgens bei der ersten Kaffeepause dieser Umstand schmerzlich in Erinnerung gerufen wird, während ich mich ein weiteres Mal still in einer Ecke aufgeräumt habe, stelle ich mir den am Abend stattfindenden Empfang vor und entschließe mich zum geordneten Rückzug nämlich heimzufahren. Vielleicht, sinniere ich, werde ich auf Tagungen künftig nur noch am ersten Abend dabeisein, damit ich die Menschen, die ich kennenlerne, am kommenden Tag nicht mehr nicht wiedererkennen muss.

Fazit: vieles hat sich verändert, verbessert, ist weniger anstrengend geworden, aber vieles ist eben auch gleich geblieben. Aber das hätte ich doch wissen können. Habe ich wirklich erwartet, nach den Strapazen der OPs alles Schmerzliche hinter mir zu lassen? Vielleicht habe ich das wirklich. Auf der Tagung habe ich einen exzellenten Vortrag einer jungen Professorin gehört, die ein wenig jünger ist als ich und mich gefragt, ob ich zu derlei Leistungen auch fähig gewesen wäre, wenn mich nicht meine Einschränkung von zahlreichem Austausch und auch vom intensiven Literaturstudium ausgeschlossen hätte. Habe ich dehslab nur so viele Ideen, weil ich andere Menschen und Literatur nicht so intensiv rezipieren kann? Nichts gegen Ideen, wirklich nicht, aber in der Wissenschaft brauchen sie einen Rahmen. Bin ich zu diesem in der Lage?

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