Gelungenes Pasing – das Glücksgefühl der transidenten Person. Der Moment, wenn niemand entdeckt, niemand wissen will, ja, nicht mehr zweifelt, welches Geschlecht ihr gegenübersteht. Was dahinter steht, vermag ich nur in geringstem Maße nachzuempfinden. Es mag sich dabei um die Präsentation der geglückten optischen und akustische Erscheinungsform auf der einen und der dadurch vollzogenen Passung in das Gesellschaftsgefüge auf der anderen Seite handeln. Der transidente Mensch hat sich so perfekt in das von ihm bevorzugte Geschlecht hineingewoben, dass er unperfekt genug ist, um als dieses in der Gesellschaft nicht mehr aufzufallen.
Aber ehrlich gesagt will ich nicht über Themen schreiben, mjt denen ich mich so wenig auskenne wie mit diesem. Denn inzwischen scheint es mir auch schon wieder ein veraltetes Modell sich zu wünschen, einem eindeutigen Geschlecht zugeordnet zu werden. Mein Punkt ist ein anderer: will ich Pasing?
Meine Freunde, meine Kollegen, sie alle sind immer recht zufrieden mit sich und mit mir, wenn sie mir mitteilen, dass sie im täglichen Umgang mit mir vergessen, dass ich ja eigentlich anders bin als sie, dass man mir nicht anmerkt, wie schlecht ich sehe. Meist stehe ich solchen Aussagen recht ratlos gegenüber. Was soll ich dazu sagen, darauf antworten? Soll ich stolz sein auf mein gelungenes Pasing, soll ich ihnen verzeihen, dass sie mich mal wieder „normal“ behandelt haben, soll ich sichtbar schlecht sehend werden? Ich hab wirklich keine Idee. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes so furchtbar bequem anders zu sein als andere. Bestimmte Regeln gelten nicht, andere gelten, ein herrliches Warenhaus an Verhaltensvielfalt, die von anderen nicht nachprüfbaren Bedarfe als Postulate zu erheben und sie durch ein körperliches Gebrechen unantastbar zu machen. Ich muss Acht geben darauf, nicht der Verlockung der Selbstviktimisierung nachzugeben. „Ich würde so gern Ski fahren, Baskettball spielen, nach Noten singen…“, es gibt ganz viele „ich würde so gern“ in meinem Leben. Aber ist das tatsächlich so oder verstecke ich mich hinter meiner eigenen Faulheit? Aber ist meine Faulheit nicht auch einfach pure Erschöpfung, weil ich mich in dieser anderen von Sehenden aufgebauten Welt täglich neu normalisiere? Dieses Pendel, normal sein zu wollen, es zu können und dann gleichzeitig wieder sehr deutlich zu merken, dass ich es nicht bin, schwingt täglich in mir hin und her. Früher war es mein größter Wunsch, eindeutig zu sein, sehend oder blind, aber nicht immer dazwischen. Heutzutage habe ich diesen Gegensatz, besser diesen Kontrast, in mich hinein integriert, verwende die Figur des Kontrastes gar, um Verhältnisse und Praktiken besser einzugrenzen und zu verstehen. Ich bin gleichzeitig schlecht sehend und beuge mich über eine sehr kleine Schrift um sie zu lesen, gleichzeitig schaue ich von außen auf die gebeugte Frau, die sich ein Objekt nah an die Augen hält und schätze ihre Präsenz in der Öffentlichkeit ein, wie auffällig sieht sie aus, wie irritiert oder gar abgestoßen reagiert die Umgebung, die ihr Anderssein registriert. In mir drin bin ich mit dieser Sichtweise sofort gewarnt vor allzu eilfertigen Helfern, die hinzuspringen, ihre Unterstützung anbieten und mich dadurch eindeutig aus dem Pasing ausschließen.
Konkretes Beispiel: gestern war ich einkaufen, Supermarkt mit Maske, Abstand halten, wir kennen das alles inzwischen, auch wenn wir alle uns längst noch nicht daran gewöhnt haben. Ich stehe in einem recht engen Gang nahe dem Eingang, ein Mann steht mit dem Rücken zu mir vor mir und versperrt mir meiner Einschätzung zufolge den Weg. Ich warte still, bis er sich vielleicht wegbewegt, höre hinter mir jemanden leise rufen „Entschuldigung, hallo, Entschuldigung“. Ich glaube, es ist der freundliche Mitarbeiter der Supermarktfiliale, der mir eben den Wagen ausgehändigt hat. Ich überlege noch, was ich falsch mache und beschließe, mich erst mal nicht vom Fleck zu rühren, auffällig genug bin ich mit meinem Stock sowieso. Ich spüre mehr als ich sehe, dass in meinem Rücken Bewegung entsteht, da dreht sich der vor mir stehende Mann zur Seite und rückt aus dem Weg, dass ich vorbei gehen kann. Ich höre, wie der Mitarbeiter hinter mir sagt „Genau, danke“, bevor ich die Engstelle passiere und entscheide, mir weiter keine Gedanken zu machen, dass ich durch mein vorsichtiges, ja defensives Verhalten eine Störung erzeugt habe. Warum bin ich nicht einfach durchgelaufen, habe „darf ich mal vorbei“ gesagt? Na, weil der Versperrende geantwortet hätte, dass es genug Platz gibt… Inzwischen bin ich soviel klüger als früher. Inzwischen weiß ich, wie wenig die Menschen auf ihre Umwelt achten. Zehn Minuten, ich hatte meinen Einkauf eben erfolgreich abgeschlossen, wollte ich mit meinem Wagen nach der Kasse nach rechts abbiegen, da scherte jemand vor mir ein, ich trat einen Schritt zurück und wollte ihn vorbeilassen. Da macht der Mensch, ich erinnere mich nicht mal, ob ich gesehen hab, ob Mann oder Frau, eine Bewegung mit der Hand, ich solle vorbeigehen. Diese Hand war eindeutig ungeduldig, denn die Bewegung sauste mehrmals an meinem Blickfeld vorbei, bevor ich sie als das identifizierte, was sie war. Ich ging also vorbei und sagte ganz freundlich: „Ich würde keinen Blindenstock verwenden, wenn ich Ihre Handbewegung gut sehen würde.“
Ich bin eine gute Beraterin in meinem Beruf. Ich denke, ich bin das deshalb, weil ich selbst, oft gefragt, oft ungefragt, Rat erhalte. Der häufigste unter diesen, den ich in meinem Erwachsenenleben erhalten habe, lautet: Mach Dir nicht so viele Gedanken. Bei der Schilderung einer Geschichte wie oben bin ich fast geneigt zuzustimmen. Aber ich kann nicht anders, in meinem Kopf formen sich andere Gedanken, das Pendel schwingt von dem einen Ich zum anderen. Warum machen Menschen Handbewegungen, wenn sie gleichzeitig einen Blindenstock sehen? Sprechen sie andere nicht gern an? Geht Ansprache zu weit, stellt sie zu viel Kontakt her?
Ich denke wieder einmal an meine heiß geliebte Griechin, die mich, ich erzählte in einem anderen Beitrag bereits davon, ansprach, als ich über eine vielbefahrene Straße gehen wollte. Sie fragte, ob ich die Straße überqueren wollte, ich sagte ja, sie nahm mich am Arm, brachte mich über die Straße, sagte Tschüß und weg war sie. Ich musste nicht freundlich zu ihr sein, wir mussten keinen Kontakt knüpfen, sie war ein Werkzeug für mein Bedürfnis, und sie erwartete nichts.
Und dann bleiben Verhältnisse ja nie gleich, wie wir alle im letzten Dreiviertejahr schmerzlich erfahren mussten. Die Mundnasenbedeckung dämpft und verzerrt die Stimme, die Menschen müssen lauter miteinander sprechen, der Geräuschpegel in der Stadt ist angestiegen, in öffentlichen Verkehrsmitteln ebenso wie in Einkaufszentren oder anderen öffentlichen Einrichtungen. Ich beobachte mit Faszination, wann sich diese Einrichtungen darauf einstellen werden. Wird es Architekturen von Häusern und Straßen verändern, werden angenehme Einkaufsatmosphären künftig anders erzeugt werden als mit sogenannter Kaufhausmusik und angenehmen Gerüchen? Und wie lange wird das dauern?
Ich glaube, dass gerade die Menschen, die mit anderen Sinnen soviel durchlässiger sind, weil sie sie intensiver nutzen als die Augen, hier unzählige wertvolle Hinweise geben könnten. Schade, dass sie noch nicht von Industrie und Wissenschaft entdeckt wurden. Hier halte ich Normalität für eine Falle, einen Einheitsbrei, der Innovationen ausklammert. Hat sich was mit Pasing!