Wie meine Welt aussähe

Es ist klar und muss hier hoffentlich nicht wiederholt werden, dass sich das Leben als versehrter Mensch in einer Umgebung frei von offenkundlgen Einschränkungen dieser Welt unterwerfen muss. Je höher das Anforderungsprofil dieser Umgebung ist, umso rarer sind die Nischen, in die sich der versehrte Mensch flüchten kann. Ich selbst grabe mir solche Kammern selbst, trete für Rücksicht und Empathie mir gegenüber vor andere Nicht-Versehrte, lade sie in die von mir zurechgenagten Nischen ein, fordere ihnen Eigenschaften ab, die in ihrer und meiner Umgebung ansonsten nur wenig Platz einnehmen dürften. Ich glaube, weiß es aber nicht, dass diese Anlagen und vielleicht auch Wünsche ebenso in den Nicht-Versehrten aktiv sind, dass die Umgebung sie aber nur zu einem gewissen Maß erlaubt. Arbeite ICH langsam, kann ich mich in die Nische „ich lese das nicht so rasch“ begeben und erzeuge Verständnis. Führe ICH jemandem vor Augen, dass meine Möglichkeiten und meine Fähigkeiten nicht miteinander übereinstimmen, indem ich den Nicht-Versehrten begreiflich mache, dass ich nicht einfach im Ausland arbeiten, eine Habilitation schreiben etc. kann, weise ich sie gleichzeitig auf ihr Privileg, nicht versehrt zu sein, hin. Ziemlich unangenehm für meine Mitmenschen, schätze ich mal. Ich selbst denke oft genug darüber nach, wann ich etwas wirklich nicht leisten kann und wann ich eine bequeme Ausrede verwende, um mich der Umgebung ein Stückweit zu entziehen. In meinem sehr beshäftigten Alltag ist leider oft genug keine Zeit, Arbeitsabläufe einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, um meinen Umgang mit ihnen ausreichend zu reflektieren. Die Best-Practice-Beispiele der Kolleginnen und Kollegen passen zumeist nicht zu meinen Fertigkeiten, so dass ich auf meine eigene Kreativität zurückgreife, um Alternativen für einen bestimmten Ablauf zu entwickeln. Ich beschwere mich nicht über diese Tatsache, habe ich mir doch diese Umgebung bewusst oder unbewusst ausgesucht, verlange nach ihren Herausforderungen und ziehe einen großen Teil meines Selbstbewusstseins aus ihr.

Aber manchmal am Tag, auch wenn ich diesem Gefühl absichtlich wenig Raum zubillige, kratzt ein Bedürfnis an meiner Wahrnehmung, wie meine Umgebung meine eingeschränkten Möglichkeiten auffangen würde. Niemals würde ich diese Wünsche formulieren, denn die Erfahrungen damit haben mir gezeigt, dass sie ausgesprochen und gehört eine verschwindend geringe Haltbarkeit im Bewusstsein der anderen haben. Ich verlange hier die Quadratur des Kreises, denn einerseits wünsche ich mir einen sorgfältigen Umgang mit meiner Versehrtheit, andererseits ist genau dieser wiederum ein Greuel für mich. Denn er zwänge andere Menschen, sich mir gegenüber anders zu verhalten als Nicht-Versehrten, also ihresgleichen gegenüber. Das wiederum würde mich noch mehr von anderen abtrennen und verbesondern, und dagegen kämpfe ich ja ständig.

Heute male ich mir und Euch aber einmal eine Welt, die meinen Alltag verschönern würde. Manchmal passiert die Erfüllung solcher Wünsche unaufgefordert und macht meinen Tag hell und luftig, und manchmal spüre ich nur ganz tief drinnen, wie wieder mal eine gegenteilige Reaktion mein Gemüt verfinstert.

In meiner fiktiven Welt fragt mich niemand danach, ob ich diesen oder jenen Schauspieler_in kenne, für mich sehen sie alle gleich aus. Die Stimmen unterscheiden sich, aber meist handelt es sich um mehrfach tätige Synchronsprecher_innen. In meiner Welt spielen Schauspieler_innen keine Rolle. Wie sie aussehen, ist ebenso unwichtig für mich wie die unterschiedlichen Rollen, die sie einnehmen. Schade, dass ich mich bisher mit niemandem über gute oder schlechte Vorleserinnen und Vorleser von Hörbüchern unterhalten konnte. Hier habe ich viele fein verästelte Kriterien, wie Sprecherinnen und Sprecher lesen müssen, und hier finde ich meine wahren Heldinnen und Helden. Sie sind analog zu den Schauspielerinnen und Schauspielern der allermeisten Menschen für mich. Schade nur, dass fast niemand sich aufs Hörbuch hören einlässt, weil es eben Filme gibt.

In meiner Welt begrüßt mich niemand, der meinen Alltag nicht teilt. Ich gehe durch meine Welt mit einer personellen Landkarte. Das bedeutet, dass ich genau weiß, es mir aber oft ganz bewusst ins Gedächtnis rufen muss, wen ich in welcher Sitzung, bei welcher Tagung, in welchem Stadtteil, auf welcher Straße treffen könnte. Nanche Menschen erkenne ich dennoch, den genauen Parametern habe ich noch nicht ausreichend nachgespürt, weil sie so heterogen sind. Manchmal erkenne ich meine beste Freundin nicht auf dem Flur, wenn sie schweigend bei einer Gruppe steht, ich sie an diesem Tag noch nicht gesehen und ihre Kleidung noch nicht eingespeichert habe. Manchmal erkenne ich einen Menschen, den ich nur alle drei Monate treffe. Die Stimme ist dabei in meiner Wahrnehmung zwar wichtig, hat aber als einziges eindeutiges Identifikationsmerkmal keinen Bestand. Zu groß sind die akustischen Irritationen der Umgebung, um ein Stimmprofil separiert einspeichern zu können.

Mein Büro hat einen kleinen Vorraum, durch den man zwei Schritte in mein eigentliches Zimmer zurücklegen muss. Das bedeutet, ich kann, wenn eine Person meinen Raum betritt, gar nicht sehen, wer reinkommt, niemand könnte das. Diese Woche hat eine Studentin bei mir geklopft und noch bevor sie mein eigentliches Büro betreten hat schon ihren Namen genannt. Unaufgefordert. Innerhalb von zwei Minuten konnten wir ihr Problem klären, ich konnte mich ausschließlich darauf konzentrieren, ohne vorgeben zu müssen zu wissen, wer sie ist. Ein lichter Moment.

In meiner Welt zeigt mir niemand unaufgefordert ein Foto oder eine Präsentation. Und wenn ich darum bitte, dann nie ohne begleitende Erklärung. In meiner Welt wäre es himmlisch, ein Foto gezeigt zu bekommen, auf dem die groben Umrisse schon mal vorbeschrieben wurden. „Das schwarze da links ist die Oma, das weiße da rechts bin ich im Kinderbett“ Und dann kann ich selbst wählen, was ich auf diesem Foto (sind ja zumeist Smartphone-Fotos) vergrößern möchte.

In meiner Welt ruft mir jeder x-beliebige Fahrgast im Bus beim Aussteigen zu: winzige Stufe, hohe Stufe, Riesenschritt. Wohl gemerkt, er oder sie ruft nicht Achtung, Vorsicht oder Obacht. Eine Angst weniger für die Seele, eine Erschütterung weniger für den Körper, den ich nicht auf den Fuß fallen lasse, indem ich mein Gewicht so lang in der Luft halte, bis der Fuß den Boden berührt hat.

In meiner Welt zieht mich niemand über eine rote Ampel, weil er oder sie genau weiß, dass meine Angst vor dem Verkehr so tief sitzt, dass dieses Über-die-Straße-Ziehen für mich Stress bedeutet. Und der ist nicht abbaubar, weil der nächste Stress schon wartet. Das kann ein anderer Fußgänger sein, eine Mülltonne, die drei Zentimeter zu weit auf den Bürgersteig ragt, ein auf dem Boden befindliches Objekt, das nicht als flach, hoch, rund oder nachgiebig identifiziert werden und daher womöglich zum Straucheln führen kann.

In meiner Welt verlangt niemand von mir ein gehaltvolles Gespräch, wenn ich gemeinsam mit anderen abends nach Hause gehe. Dunkelheit bedeutet Stress.

In meiner Welt sagt niemand „Ich weiß, Du siehst das jetzt nicht, aber drüben steht…“ Warum kann dieser Satz nicht einfach mal runtergeschluckt werden? Ganz einfach, weil sich jemand dann konzentrieren müsste, wie er oder sie mit mir in jedem Moment umgehen muss. Ich kann keinen Anspruch erheben auf ein Verhalten anderer mir gegenüber, auch wenn ich selbst zumeist genau das tue. Ich sage nicht: „Das und das seh ich gerade nicht, geh nicht so schnell, beobachte mich nicht, wie ich meinen Nasenring an die richtige Position rücke, eine Unreinheit im Gesicht berühre, an einem Fleck an meinem Pullover herumkratze… Ich sehe nicht, wenn Du das machst, also weiß ich nie, dass man sowas nicht in Anwesenheit anderer macht und vergesse, dass man es eben nicht tut.“

In meiner Welt tut niemand meine zahlreichen Ängste ab. Ich bewege mich vorsichtig, wenn ich Gläser in der Hand halte, denn wenn ich allein bin und eines runterfällt, finde ich nicht alle Scherben und trete in vergessene. Ich habe Angst vor dem Schneiden mit Messern, denn wenn ich mich schneide, weiß ich nicht, ob nur die Oberfläche der Haut eingeritzt oder der halbe Finger ab ist. Ich habe Angst vor spritzendem Fett, denn ich fühle es nur, habe es noch nie auf Kleidung oder Fußboden gesehen, rutsche vielleicht darauf aus, trage es an meinen Schuhen durch die gesamte Wohnung.

In meiner Welt kommentiert niemand meine Erzählungen, wenn ich im Supermarkt etwas nicht gefunden, mich verlaufen habe, etwas nicht lesen konnte, meinen Lippenstift falsch gemalt habe, mit dem Ratschlag: „Dann lass dir doch helfen.“ So oft ich angwiesen auf Hilfe bin, so oft ich mich dadurch gedemütigt und abhängig fühle, so stark ist das Bedürfnis, in einer für mich nicht gemachten Welt so unabhängig wie möglich zu sein. Und warum das? Weil Hilfe keine Selbstverständlichkeit ist.

Die Diskrepanz zwischen der Welt, wie ich sie mir wünsche, und der, wie sie sich mir jeden Tag präsentiert, klingt trist, ist aber auch steter Ansporn über das scheinbar Normale nachzudenken

Irgendwas stimmt hier nicht – Dimensionen von Diskriminierung

Ich freue mich immer wieder, wenn ich in den Medien auf das Thema Antidiskriminierung stoße. Denn inzwischen gibt es ein Wort für die mentale Fremd-Verstümmelung, der wir ehedem als Randgruppen Bezeichnete ausgesetzt sind. Ich mag sie alle, die People of Color, die Schwulen und Transen, diejenigen, die meine Muttersrprache nicht so gut beherrschen wie die, deren Gender ich nicht erkennen kann, fühle mich wohl unter ihnen. Bei denen, die ihre Religion durch Attribute ihrer Kleidung sichtbar machen, ist das ein bisschen anders, denn ich frage mich im stillem, was sie von mir halten, die ich meine Beine, so wenig anziehend sie sein mögen, zeige, die ich mein Haar nicht bedecke, ob sie mich ebenso leidenschaftslos betrachten wie ich sie. Aber das ist eigentlich nur in den ersten Sekunden so, bis ich merke, sie interessieren sich ebenso wenig für meine religiöse Uneindeutigkeit wie ich mich für ihre Präferenz. Soll bitte jede_r leben, wie es ihm und ihr gefällt, solang ich nicht von ihm oder ihr behelligt werde. Die Diskriminierung von Frauen ist so absurd wie die gegen Menschen mit anderer Hautfarbe, Menschen mit unbestimmtem Geschlecht, Menschen mit nicht normativ gesetzter (als normal geltender) sexueller Orientierung etc. oder Menschen jenseits der 70.

Aber irgendwas stimmt hier nicht, und ich möchte versuchen zu ergründen, was genau es ist. Denn die eben genannten Gruppen brauchen nichts Ausdrückliches, um am Leben teilhaben zu dürfen, außer die scheinbar unmögliche Kleinigkeit, von der „normalen“ Gesellschaft nicht als etwas Schlechteres betrachtet zu werden. Sie könnten also ein Leben führen mit allen zur Verfügung stehenden Ressourcen? Nein, gerade bei den Menschen mit uneindeutigem Geschlecht müssen noch enorme Modifikationen in den Gegebenheiten zur Verfügung gestellt werden, öffentliche Räume müssen mehr als nur zwei Typen von Toiletten, Umkleidekabinen etc. zur Verfügung stellen. Ihre Vielfältigkeit muss nicht nur wahr- sondern auch angenommen werden. Hier gleichen sie den Behinderten. Auch für diese steht zumeist nicht die Umgebung zur Verfügung, die sie brauchen.

Aber irgenwas stimmt immer noch nicht. Nehmen wir mal an, alle öffentlichen und privaten Einrichtungen, die alle Menschen besuchen möchten, wären für die Bedürfnisse der vielfältigen Gesellschaft ausgestattet, wären barrierefrei, genderfrei, ideologiefrei. Und nehmen wir weiter an, jetzt wirds natürlich extrem Science Fiction, alle Menschen würden alle so annehmen, wie sie sind, jeder People of Color würde jede Wohnung bekommen, die er möchte, jede Kopftuchträgerin würde ebenso freundlich an der Käsetheke behandelt wie die neben ihr stehende Blondine mit hautengem Kleid, jede trans-Person könnte sich in der Sauna kalt abduschen, ohne Angst vor angewiderten Blicken oder Tuscheleien hinter ihrem Rücken haben zu müssen… Wär schon mal schön, oder? Warum habe ich die Rollifahrerin nicht genannt, die im Fitnesscenter ihre Übungen macht, den Blinden, der in der Bibliothek seine Bücher sucht? Hätte ich machen können, denn auch hier sind es Gegebenheiten, die ihnen das Leben leichter machen würden.

Aber sinn-, körperlich und geistig eingeschränkte Menschen brauchen noch etwas anderes. Im Gegensatz zu den vorher Genannten sind sie auf einer grundlegenden Ebene eingeschränkt, denn erstens brauchen sie so verschiedene Umgebungen, die auch miteinander konkurrieren können. Während sich der Blinde über die taktilen Leitsysteme auf der Straße freut, sind sie für die Rollifahrerin ein weiteres Hindernis etc.

Die Gegebenheiten für Behinderte sind sehr viel mannigfaltiger und komplexer und auf der anderen Seite viel einfacher zu beheben als die Pfähle im Kopf der Menschen. Denn das Bedürfnis, einen Aufzug zu brauchen, eine ausreichende Beleuchtung oder eine akustische Ampel, kann befriedigt werden, und damit kann sich die Öffentlichkeit auf die Fahnen schreiben, sich gegen Diskriminierung zu engagieren, da sie durch das Entfernen von Barrieren Teilhabe ermöglicht.

Irgendwas stimmt schon wieder nicht. Ich persönlich freue mich, wenn ich einen Aufzug betrete, dessen Tastenfeld so riesig ist, dass ich mich nicht direkt davor aufbauen und damit allen anderen Menschen zeigen muss, dass ich es nicht gut erkennen kann. Kürzlich stand ich in einem Aufzug, mit mir zusammen eine Frau mit Kopftuch, ein männlicher People of Color, ein weißer Rollstuhlfahrer und ein weibliches Paar eng aneinandergeschmiegt. Ich genoss diese Vielfalt, denn dadurch, dass jede/r was anderes hatte, waren wir alle geschützt, unser Anderssein beschützte uns wissentlich vor Angriffen. Dann fiel mir auf, dass ich ja ganz ohne Stock unter ihnen stand, unerkannt, als potenzielle Normale, als mögliche Angreiferin aus der nicht diskriminierten Welt, und sofort fühlte ich mich unwohl. Bin nur ich es, die eine potenzielle Gefahr wittert, sobald ich meinen privaten Raum verlasse, in dem ich nichts bin als ein Mensch? Ist es die Unterscheidung in normal und nicht normal, die Diskriminierung erst real werden lässt?

Was ich eigentlich schreiben wollte, und jetzt finde ich gerade meinen roten Faden nicht mehr, ist mein völliges Unverständnis gegenüber Diskriminierung von Frauen, Menschen aller Haut-, Haarfarbe, Augenformen, Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Präferenzen und auch religiösen Glaubensvorstellungen. Denn sie haben doch nix, was soll denn das? Sie können ebenso gute Mieter, Ärztinnen, Anwälte (mit Sicherheit sogar bessere!), Pfarrerinnen, Handwerker oder was auch immer sein.

Behinderte hingegen haben wirklich was. Sie werden nicht nur eingeschränkt durch die nicht an sie angepasste Umgebung, nein, sie sind auch dann noch eingeschränkt. Dass man sie deswegen nicht diskriminieren darf, ist natürlich selbstverständlich und muss hier nicht betont werden. Aber ich verstehe die Unsicherheiten gegenüber Behinderten besser als gegenüber den anderen Gruppen, die ausgegrenzt werden. Denn sie haben ja wirklich etwas, das sie beim Zusammetreffen unkalkulierbar macht, ihnen Schranken auferlegt, sich frei und selbstbestimmt zu bewegen, zu kommunizieren oder die Angebote der Umgebung wahrzunehmen. Während Antidiskriminierung der erstgenannten Gruppen also eine vorerst kognitive Ebene betrifft, die Schranken im Kopf von Menschen, liegt Diskriminierung von Behinderten meiner Ansicht nach eine tiefgreifendere Unsicherheit zu Grunde. Natürlich weiß der nicht-behinderte Mensch auch nicht, inwiefern sich eine Persönlichkeit bildet, wenn sie stets Anfeindungen ausgeliefert ist, die aus Motiven von Rassismus, Sexismus oder anderen Zuschreibungen resultiert. Was macht es mit der eigenen Identität und Körperwahrnehmung, wenn ständig eine Grenze gezogen wird zwischen „den anderen“ und sich selbst? Das ist glücklicherweise heute schon viel besprochen und von wissenschaftlichem Interesse. Auf einer ganz perfiden Ebene mag es sein, dass sich hier Allianzen zwischen People of Color, sexuell nicht normativ gesetzten Menschen, sichtbaren Religonszugehörigen und Behinderten bilden. Auch weisen die Bestrebungen von Diskriminierung Betroffener, dys Quäntchen besser zu sein als der normativ gesetzte Mensch, eine Ähnlichkeit auf. Aber seien wir doch bitte bitte einmal ganz ehrlich: ein homosexueller Mann, eine dunkelhäutige Frau, für beide gibt es keinen Grund, eine ebenso gute Ärztin zu sein wie jeder andere Mensch. Aber der Behinderte kann dies eben nicht, weil er nicht nur Pfähle im Kopf beseitigen muss, die jeglicher logischer Grundlage entbehren. Dass eine Gesellschaft überhaupt auf die Idee kommt, dass Menschen aufgrund irgendeiner scheinbaren Andersheit nicht befähigt sein sollen, genauso Teil dieser Gesellschaft zu sein, das ist im höchsten Maße beschämend für diese Gesellschaft.

Wie ist es aber nun gerade mit dem sinn-eingeschränkten Menschen? Kann ein Tauber Anwalt sein? Eine Blinde Fahrlehrerin? Nein, hier werden nun ganz praktische Hindernisse offenkundig, die sich die Gesellschaft zu überwinden zur Aufgabe gemacht hat. Ein technisches Hilfsmittel nach dem anderen wird erfunden, um auch unseren behinderten Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben so vielfältig wie möglich zu gestalten. Aber irgendwas stimmt hier schon wieder nicht.

Vor ein paar Tagen hatte ich eine Diskussion mit einem Arbeitskollegen über meinen Arbeitsassistenten. Dieser bedient für mich Datenbanken, die zu komplex sind, als dass ich sie am Bildschirm überblicken kann, er scannt und sucht Literatur, begleitet mich zu Veranstaltungen, deren Räumlichkeiten ich nicht finde etc. Er ist eben ein Assistent für meine Arbeit. Mein Kollege meinte aber, dass er, ich zitiere, „nicht nur Deine Betreuung ist sondern einen Mehrwert für die Uni darstellt“. Aha, ich mache hochbezahlte Arbeit und brauche eine Betreuung wie eine Dreijährige? Das ist es, was das Behindertsein anders macht als andere Formen des Daseins derer, die von Diskriminierung betroffen sind. Mir wird abgesprochen, dass ich selbständig bin, dass ich ein Wesen bin, dem alles zuzutrauen ist. Und das stimmt ja auch in gewisser Weise, erkenne ich ja nicht mal den Kollegen, den ich seit 15 Jahren kenne, auf der Straße. Diese Unfähigkeit ist es, die zu Aussagen führt, ich bräuchte eine Betreuung. Hier wurde schon so oft darüber geschrieben, wie diese Verbesonderung sich auf mein Lebensgefühl auswirkt, wie wirkt sich die Konfrontation mit mir aber auf meine Mitmenschen aus? Ich dachte stets, dass sie es irgendwann vergessen, dass ich nicht ganz so bin wie sie, aber an Aussagen wie der Notwendigkeit einer Betreuung spüre ich, die Barriere ist vorhanden und kann nicht überwunden werden.

Ist es jenseits jeder Möglichkeit, es in Worte zu kleiden, was Menschen denken oder fühlen, wenn sie mich sehen, ich sie aber nicht? Was denkt Ihr dabei, oder denkt Ihr gar nicht sondern fühlt nur? Fühlt Ihr die Barriere zwischen Euch und mir, dass Ihr etwas könnt, das ich nicht kann, dass ich ein armer Tropf bin, dass es bewundernswert ist, wie ich durch die Welt stolpere… Ich hab keine Ahnung. Klar ist immerhin, dass sich zumindest Sinn-Behinderte in dieser Hinsicht von allen anderen diskriminierten Gruppen unterscheiden, denn etwas a priori gesetztes wie die Sinne, etwas, das wir alle als selbstverständliich zu nutzen im Laufe des Lebens gelernt haben, ist einfach gestört und wirkt sich (wie?) auf die Persönlichkeit aus.

Deshalb tue ich mich schwer,. Diskriminierung von Behinderten auf einer bestimmten Ebene mit anderen Diskriminierungen gleichzusetzen. Diese anderen sind gänzlich indiskutabel und auch im Höchtsmaß Ausdruck von Dummheit. Aber diese eine ist zwar nicht verständlich, gerade für kognitiv aktive Menschen, aber sie hat einen Ursprung. Ach, wenn man doch aus dieser Verbesonderung etwas anderes machen könnte!

Die Geschichte der Identität: vom schlechten zum anders sehen.

Immer wieder bin ich unschlüssig, ob ich an diesem Blog weiterschreiben soll. Ncht weil mich seine Profanität und seine wiederkehrenden Themen langweilen, das ist zwar immer mal wieder ein Gedanke, aber nein, es hat mit dieser Identität zu tun, die ich hier breit trete und die dadurch in meinem alltäglichen Denken und Handeln noch viel präsenter wird und die ich dadurch wieder und wieder erzähle und mich damit auch reduziere.

Der Mensch kann viele Identitäten parallel in Anspruch nehmen, gleichzeitig kann er Bayer, Deutscher, Vegetarier, Intellektueller, Musiker etc… sein und sich der Gruppe zugehörig fühlen, deren Stärke er in der akuten Situation benötigt. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat mich auf diese Idee gebracht, dass es sich hierbei nicht nur Identitäten handelt sondern um Geschichten, die sich ein Mensch erzählt, um sich identitär zu verankern. Eine gewisse Widersprüchlichkeit ist dabei völlig unvermeidbar und fällt nur dann auf, wenn die Grundzüge einer bestimmten Geschichte besonders offenkundig sind und anderen Geschichten gänzlich entgegenstehen. Mit Sicherheit entkleiden wir solche Brüche eher bei anderen als bei uns selbst: Wie kann ein wahrer Christ töten? Warum verlangt eine im Herzen stolze Marxistin geliehenes Geld bis auf Heller und Pfennig zurück und hat kein entspanntes oder gar verschwindend geringes Interesse an der Rückzahlung? Warum ist ein Philanthrop aggressiv gegenüber Mitmenschen? Menschen ordnen ihre Geschichten also ihren Zielen unter und legitimieren diese durch die jeweils passende Identitätserzählung.

Ich habe die ersten 40 Jahre meines Lebens damit verbracht, die sehbehinderte Identität zu verschleiern, zu leugnen und zu kompensieren, indem ich freundlich, gutmütig, ehrgeizig und maximal anpassungsbereit war. Danach erst habe ich begonnen, die Geschichte der Behinderung meinen Identitäten aktiv hinzuzufügen. Ich habe die Tatsache des schlecht Sehens damit von ihrer Allmacht und Intimität befreit, ich erklärte mich allmählich bereit dazu, sie nicht als persönlichen Makel zu akzeptieren sondern als eine Variable, die mein Leben rahmt, nicht nur einschränkt. Ich habe aufgehört mich für nachvollziehbares Fehlverhalten zu schämen sondern fügte diese eine Erzählung meiner Alltagsrealität hinzu und wehrte mich nicht mehr gegen diese Determinante.

Klingt abstrakt und langweilig, kein Problem. Früher bin ich oft gestolpert über Stufen, Schwellen, Müll auf der Straße, durch Wurzeln der Bäume verursachte Erhebungen auf dem Bürgersteig. Wenn ich wieder mal strauchelte, war meine erste Reaktion Scham, Ärger und die Sorge, ob mich jemand bei dieser Tölpelei beobachtet hatte. Ziemlich dämlich, ausgerechnet an sowas zu denken, sah ich doch die potenziellen Beobachter_innen nicht. Auch das dachte ich schon früher und ärgerte mich noch mehr, vor allem über die Unabänderlichkeit des Stolperns, des Nicht-Sehens der Beobachter und letztendlich über mein eigenes Gedankenkarusell. Der nächste (oder zeitgleiche?) Gedanke war, warum bist du jetzt gestolpert, hier war doch gar nix. Was hat dein Stolpern verursacht? Woher kommt die Veränderung im Boden, warum hast du dich nicht an die Schwelle erinnert, die kennst du doch schon etc. pp.

Heute hat sich da eine Menge verändert. Ich stolpere noch genauso, ärgere mich noch immer, aber ich gehe nicht mehr mit mir ins Gericht, vielmehr erkläre ich mir mein Straucheln mit der Erzählung des schlecht sehens und lasse den Gedanken danach recht schnell wieder fallen. Im Gegensatz zu früher entwerfe ich bei solchen Missgeschicken inzwischen recht häufig eine Welt, wie sie nach meinen Bedürfnissen aussähe: ohne Stufen, nur allmählich ansteigenden Rampen, breiten Straßen, auf denen sich Menschen bequem ausweichen könnten, so dass auch die Hecken oder in den Weg hineinragende Äste nicht so akurat gestutzt sein müssten, akustische Signale, wo sich keine Treppen vermeiden lassen oder zumindest kontrastreiche Gehweg- und Straßenbeläge… Ich könnte für Gebäude, Supermärkte, freie Gelände, ja, ganze Städte Pläne entwefen, die das ästhetische Empfinden eines jeden Nichtbeeinträchtigten wahrschein erschauern ließen, und natürlich weiß ich das. Früher hab ich mich darüber geärgert, wenn ich etwas nicht oder falsch gesehen habe, heute ärgere ich mich nur noch halb soviel, wundere mich eher und mache mir zum Beispiel über die Aussagekraft von Farben Gedanken, deren geringer Einsatz gerade in der Gestaltung des öffentlichen Raums ich nicht begreife. Farben erkenne ich nämlich sehr gut, wenn sie sich nur stark genug vor einem Hintergrund abheben, und ich habe bei ihrem Anblick Assoziationen, die sich hinter meinem Farbempfinden verbergen. Sind diese Assoziationen individuell oder kulturell erlernt? Wann ist eine Farbe so sehr in meinem Kopf verankert, dass ich alles, was in der gleichen Farbe ist, für dieses Objekt halte oder von ihm ausgehe?

Auch hier wieder ein Beispiel: Ich habe ein pink-schwarzes Brillenetui für meine Lesebrille. Sehe ich pink-schwarz in meiner Wohnung, ist der erste Impuls, das dies mein Etui ist.

Sehe ich in einer anderen Umgebung einen Gegenstand gleicher Farbe, assoziiere ich damit immer mein Etui oder nur in einem bestimmten Kontext wie dem Büro oder dem Handtuch auf dem Rasen, weil ich da immer was zu lesen dabei hab? Darf ein Brillenetui, das ja eine relativ begrenzte Lebenszeit hat, überhaupt so dominant sein? Kann ich Einfluss auf meine farbliche Erinnerung nehmen oder vollzieht sie sich gemäß meiner Notwendigkeit, das Etui immer wieder zu finden?

Hach, heute mute ich Euch eine Menge zu. Ist alles so theoretisch. Eigentlich war ich ja von der Frage ausgegangen, ob es mir guttut, die Identität des schlecht sehenden Menschen so herauszukehren. Jetzt, nachdem ich dies niedergeschrieben habe, bin ich schon wieder davon überzeugt, dass es meinen Blick nicht nur in eine Richtung lenkt, aber oftmals fühlt sich diese Identität zu dominant an, sie entschuldigt mir zu viel, ich bin nicht zufrieden damit. Zuviele Erklärungen für mein Verhalten beginnen mit der Legitimation „ich sehe schlecht, daher mach ich dies oder jenes so oder so, kann ich das oder dies nicht“ etc. Davon möchte ich wieder ein wenig Abstand nehmen. Schließlich ist es nur eine Erzählung meiner Identität, und ich möchte auch den anderen wieder mehr Raum zugestehen, denn diese Geschichte ist immer eine exklusive, also eine ausschließende Geschichte, die mich von anderen Menschen trennt. Die Frage, ob ich dies heute noch brauche, nehme ich mal mit in diesen Sonntag.

Heute nur mal in Fragen und Stichpunkten an einem stinknormalen Arbeitstag

 

  • 6.00 Uhr Blick aus dem Fenster. Regnets? Mal genau zuhören.
  • 6.30 Uhr Küche: Mein Blick fällt auf die kaputte Leuchtstoffröhre. Wie krieg ich die denn nun entsorgt? Recyclinghof ist nicht grad um die Ecke und schlecht mit dem Bus erreichbar, oder? Schaffe ich es, die neue einzusetzen, ohne dass ich die Sicherung rausschrauben muss? Wen bitte ich denn mal um Hilfe, wenn ich den Schlitz nicht treffe?
  • 7.00 Uhr Smoothie-Zubereitung: Hab ich faulen Feldsalat in den Mixer gestopft? Ist was daneben, auf den Boden, auf meine Kelidung gespritzt?
  • 7.30 Uhr Badezimmer: Mit dem Arm an eine Ecke des Regals gestoßen, Handposition minimal verrutscht, ist der Lippenstift jetzt vermalt?
  • 7.45 Uhr Verlassen der Wohnung: Tropft meine Bioplastiktüte das Treppenhaus voll? Überprüfung mit den Fingern, scheint dicht. Werde ich wohl an der Reaktion der Nachbarn früher oder später erfahren. Oder sie reagieren darauf, dass ich zu laut niese?
  • 7.53 Uhr Bushaltestelle: Ist der Bus da vorne meiner? Soll ich rennen? Sind die Schuhe für so ne Aktion rutschfest?
  • 8.12 Uhr Im Bus: Sitzt Norma auch drin? Kenn ich hier irgendjemanden? Steh ich jemandem im Weg? Stört mein Rucksack jemanden? Wo ist der Haltegriff? Wie komme ich durch den Gang bei den vielen abgestellten Taschen? Schaut mich die Frau da hinten komisch an? Ist der Grund der vermalte Lippenstift oder ein Smoothiespritzer auf dem Hemd? Bietet mir die alte Dame da rechts gleich ihren Platz an, weil sie sieht, wie unwohl ich mich im Getümmel auf der rotierenden Plattform fühle? Oh nein, bitte nicht. (Wiederhung derlei Fragen pro Tag abhängig von den Busfahrten und der Auslastung in ihm.)
  • 8.17 Uhr Fußweg vorbei an einer Ausfahrt: Darf ich gehen oder fährt das Auto, das rauskommt, los? Kommt der Fahrradfahrer auf dem Bürgersteig noch an mir vorbei? (Wiederholung derlei Fragen in Variationen pro Tag ca. 20 mal)
  • 8.18 Uhr Eingang vor der Arbeitsstätte: Wie gelange ich ins Haus bei den vielen Menschen, die vor der Treppe stehen? (Wiederholung derlei Fragen pro Tag ca. 5 mal)
  • 9.25 Uhr Schreibtisch: Warum habe ich die Email nicht auch an den Kollegen Bert verschickt, ich war total sicher, dass ich das getan habe. Wie kann es sein, dass ich so wichtige Weiterleitungen übersehe? Sollte ich nicht doch besser in Frührente gehen?
  • 9.30 Uhr Flur: Kenn ich den? Muss ich „Guten Morgen“ sagen? 
  • 10.10 Uhr Vor dem Veranstaltungsraum: Fünf Menschen warten darauf, dass ich die Tür aufschließe. Wer ist wer?
  • 12.30 Uhr Weg durch die Stadt: Kann ich dem Mann da mit dem pendelnden Blindenstock auf dem schmalen Stück Straße noch ausweichen, ohne auf die vielbefahrene Straße springen zu müssen?
  • 13.12 Uhr Stadt: Wo war denn jetzt der Laden? Bin ich da schon vorbeigelaufen? Drecksladen, kleiner!
  • 13.20 Uhr Vor dem Cafe: Gehört der draußen stehende Tisch zu dem richtigen Cafe, in dem ich in 40 Minuten verabredet bin?
  • 13.55 Uhr Immer noch vor dem Café: Kollegin kommt an, früher als angekündigt: Hab ich der Kollegin jetzt Unannehlichkeiten bereitet, weil ich ihr gestern gesagt habe, dass ich den uns beiden unbekannten Gast aus Israel nicht von seinem Homepage-Foto her erkennen kann und auf ihre Hilfe angewiesen bin? Warum bin ich so früh hierher gegangen, um von ihm erkannt zu werden, falls er etwas früher kommt?
  • 14.15 Uhr Cafe: Wäre ich ohne diese Seheinschränkung im Studium und danach ins Ausland gegangen, hätte ich mehr gelesen und würde jetzt auch so gut Englisch sprechen wie die Kollegin? Oder ist das eine im wahrsten Sinne des Wortes faule Ausrede?
  • 14.20 Uhr Cafe: Hab ich gerade gekleckert? Sieht man den Milchschaum auf meinem roten Hemd?
  • 15.09 Uhr Verabschieden: Hab ich die Hand des Gastes korrekt zum Schütteln getroffen? Finde ich diese mir bekannte aber dämlich schiefe Stufe zum Ausgang oder falle ich darüber? Geht die Tür nach außen oder innen auf?
  • 15.10 Uhr Rückweg durch die Stadt: Sind meine Mädels im Schuhladen? Sehen sie mich und ärgern sich, dass ich nicht Hallo sage?
  • 16.30 Uhr Veranstaltung: Hab ich wieder die falsche Person angeschaut und wollte eine zum Sprechen andere aufrufen?
  • 17.15 Uhr Veranstaltung: Wie heißt diese und jene Person? Ich sage einen falschen Namen, sie weist mich darauf hin, ich entschuldige mich und verspreche, ich bringe mal meine Simulationsbrillen mit, mit denen sie sich dann mal eine halbe Stunde unterhalten dürfen. Ist das zuviel Bedürftigkeit?
  • 19.30 Uhr Busfahrt: Vor mir sitzt ein armer Mann, ein junger, blonde Haare, aber warum ist er in der Mitte des Kopfes so kahl? Sieht aus wie eine Tonsur, seltsam. Der junge Mann dreht den Kopf nach rechts, und es ist auf einmal eine junge Frau mit einem Dutt, in den sie eine rosafarbene Blume eigearbeitet hat. Welchen Bildern kann ich trauen?

Schade, dass ich das nicht früher schon mal gemacht habe. Hier erschließt sich, warum ich mich nie aus meiner Stadt weggewagt, warum ich mich für eine geistge Arbeit entschieden und dabei vor allem für sehr fundamentale Fragen interesiert habe, wer ich bin, wer die anderen sind, nach welchen Mechanismen die Welt funktioniert und welche Kompetenzen Zusammenleben erfordert.  Muss ich die Welt verändern oder mich selbst, um das Leben komfortabel zu gestalten?

Ach Du mein Schreck, was ist das hier für eine Ansammlung egoistischer und gar jämmerlicher Ausführungen! Gibt es nicht viel wichtigeres auf der Welt? Manchmal denke ich, früher war es besser, als ich all diese Gedanken und Gefühle noch verheimlicht habe, als ich noch unterscheiden konnte, ob mich die Menschen aufgrund moralischer Skrupel, es nicht zu tun, mochten oder ob sie mir wirklich zugetan waren. Außerdem könnte der Eindruck entstehen, ich hätte nichts anderes im Hirn als diesen Sehungeuer-Firlefanz. Aber das ist nicht der Fall, will mich gleich mal wieder wirklich interessanten Themen widmen.

Wenn ich die Sight City entwefen würde… oder: Mir zuliebe

Oft wundere ich mich über die Welt, meine Wahrnehmung, die Bedeutung von Sehen und die Unbekümmerten. Gestern fiel das mal wieder alles zusammen auf der Sight City, jener Hilfsmittelmesse für Blinde und Sehbehinderte, zu der in den letzten drei Tagen aus vielen Teilen der Welt Menschen anreisten, um ihre Produkte vorzustellen oder um für ihre Bedarfe Produkte zu finden.

Ich frage mich dabei, ob das Format Messe für einen solchen Austausch an Informationen geeignet ist. Es ist laut, Menschenmassen mit Stöcken, Hunden, Begleitpersonen bewegen sich entlang der taktilen Leitsysteme, überall sind es noch immer optische Reize, die an die einzelnen Stände locken… Ich gestehe es, ich bin es so leid, mich immer an der Weltsicht der sehenden großen Masse zu orientieren und genau daran meine Minderwertigkeit zu spüren.

Würde ich ein Format kreieren, auf dem Blinde und Sehende zusammentreffen, um über die Bedarfe ersterer Informationen auszutauschen, ich würde wohl eher ein anderes wöhlen. Zuerst einmal wären die Räume und Hallen nach Bedarfsgruppen gegliedert: Für Lehrer_innen gäbe es eine Halle, die von mir aus auch für Sehende ausgestattet sein könnte, also mit beschrifteten Tafeln, Bannern und all dem Firlefanz. Eine weitere Halle wäre nur für Orientierung und Mobilität, eine weitere für Alltagshilfen und wieder eine für berufliche Ausbildung oder Rehabilitation und so weiter. Es gäbe einen Audioguide wie im Museum, der nicht nur verrät, was es an welchen Stand zu erwarten gibt sondern auch wie die Person/en an diesem Stand anzusprechen sind, welche Farbe ihr Hemd hat, wo sie stehen (hier müsste das taktile Leitsystem überarbeitet werden) und in welchen Sprachen sie die Besucher_innen informieren können. Es müsste nicht mal ein Gerät sein, sondern es könnte mittels App auf der SC heruntergeladen werden.

Komplett wegfallen auf meiner Sight City würden all die Give Aways, die kleinen Schüsselchen und Schälchen mit Bonbons etc., die verwirren, anstrengen, weil man nicht weiß, was drin ist, ob sie frei verfügbar sind und so weiter.

Mittels QR-Code könnten die Besuchenden die Infos zu Materialien, die sie interessieren, akkustiv aufrufen und erst mal selbst überlegen, welche Fragen sie stellen wollen. Es gäbe einen riesigen Ruhebereich, wo lautes Reden und Handys verboten wären, so dass man sich von der immensen Anstrengung ein bisschen ausruhen könnte. Es würde viel mehr mit Kontrasten gearbeitet, akkustischen, optischen, taktilen. Und bei der Anmeldung würden die Besucher_innen einen (digitalen) Fragebogen erhalten, auf dem sie ankreuzen, wofür sie sich interessieren und den Weg angezeigt oder einen Guide zugeteilt bekommen.

Ihr seht, ich war mal wieder schwer genervt. Immer muss eine Begleitperson die Mängel der Welt ausgleichen, die meine Anforderungen nicht erfüllt, selbstverständlich ist sogar auf dieser Messe nichts. Und dabei hat nicht jeder das Glück, eine unbekümmerte und gleichzeitig so feinfühlige Asisistentin an die Hand zu bekommen, wie ich sie gestern gehabt habe.

Ein großes Problem bei Begleitungen für mich ist das „mir zuliebe“. Vor zwei Jahren wollte ich sehr gern auf das Louis Braille Festival in Marburg gehen, fand aber niemanden, der mich begleiten wollte. Ich hätte mich so gern über Schminktipps, Sportangebote, Spiele oder Tanz und Theater informiert, aber die Freundin, die ich gefragt und die mir auch erst zugesagt hatte, meinte an dem Tag: „Ach, da kannst Du doch auch allein hingehen, ich hab dazu nicht soviel Lust.“ Das sind die Momente, in denen ich verstehe, warum viele Sehbehinderte Pädagogik studieren, in dieser Peer Group finden sie unter ihren Freund_innen sicher jemanden, der sich schon allein aus beruflichen Gründen interessiert. Natürlich bin ich dann nicht auf das Festival gegangen, wusste ich doch, dass die Gegebenheiten so beschaffen sein würden, dass sie mich große Unsicherheit und Unbehaglichkeit verspüren lassen würden, müsste ich mich auf einem unübersehbaren Gelände durch viele unbekannte Szenarien bewegen. Wer möchte schon offensichtilich unsicher und ängstlich in der Öffentlichkeit auftreten, damit bietet man eine Angriffsfläche, die zusätzlich zur Bewältigung der fremden Umgebung den eigenen Stolz torpediert. Aber das ist ein anderes Thema.

Zurück zum „mir zuliebe“. Ich binde Menschen an mich, nur damit sie „mir zuliebe“ zur Verfügung stehen, wenn ich etwas von der Welt erfahren möchte? Als junger Mensch war das einfacher, junge Leute haben mehr Zeit, sind neugieriger und aufgeschlossener, aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich auch vor 30 Jahren meine liebsten Freundinnen nicht um solche Gefallen gebeten. Wäre mir doch viel zu peinlich gewesen, augenscheinlich zu einer Gruppe von schlecht sehenden Menschen dazugeordnet zu werden, die ich verabscheute, weil ich mich so sehr verabscheute in dieser Unsicherheit und Abhängigkeit von der Freundlichkeit anderer. Wenn jemand „mir zuliebe“ etwas tut, mich auf einem für mich unbekannten Weg begleitet, mir etwas zeigt oder erklärt, dann muss ich lieb und nett zu ihm oder ihr sein, denn er oder sie tut es, weil ich gemocht werde. Ich darf nicht allzu ungeduldig, unfreundlich, wütend, anspruchsvoll oder eigenwillig sein, denn dann wird mir nicht nur die Freundschaft entzogen sondern die für mich in so vielen Lebensbereichen erforderliche Hilfe.

Nun, gestern erlebte ich einen wundervollen Kontrast zum „Mir zuliebe“. Meine ehemalige studentische Hilfskraft, die mich mit einem wissenschaftlichen Projekt zu Sinn-Isolation in den letzten beiden Jahren unterstützt hatte, wurde von mir gebeten, mich nach Frankfurt auf die Messe zu begleiten. Wie erstaunt war ich, als sie dort von Anfang an in ihrer unbekümmerten Art völlig selbstverständlich aktiv und initiativ war. Sie hopste wie ein fröhliches Kaninchen von Stand zu Stand „Was ist denn das da?“, „Wie funktioniert denn dieses?“, „Können Sie mir mal erklären, wofür man das brauchen kann“…, war einfach neugierig, begeisterungsfähig und gab mir keine Sekunde das Gefühl, es ginge hier um mich um meine Bedarfe. Als ich die sprechende Brille ausprobierte, war sie selbst genauso fassungslos, was diese alles schafft und meinte danach: „Hach, wenn Dir die Brille künftig sagt, wer Dir gegenübersteht, so dass Du das Problem mit dem Erkennen von Gesichtern nicht mehr hast, dann hast Du mir gegenüber echt einen Vorteil. Ich kann mir Namen von Menschen einfach nicht merken, und sie nicht zuzuordnen ist mein größtes Problem.“ Plötzlich gehörte ich dazu, war nicht mehr das Alien, dem man einen Gefallen getan hat. Ich hatte auf einmal eine Ahnung davon, wie es ist, jemandem so zu vertrauen, dass ich nicht jede meiner Gefühlsregungen kontrollieren und überprüfen muss, ob ich noch freundlich genug bin, damit ich nicht verlassen werde.

Was bin ich doch für ein seltsames Wesen.

Funktionieren oder … tja was? Mühe bereiten? Anstrengen? Aufmerksamkeit einfordern?

Nein, ich mag keinen regelmäßigen Blog schreiben, nicht über dieses zähe Seh- oder Nicht-Seh-Thema. Als Tagebuch käme das vielleicht in Frage, aber an eine wenn auch undefinierbare mehr oder weniger stille Öffentlichkeit möchte ich keine wöchentlichen Statements darüber abgeben, warum und wie sich ein Alltag meistern lässt, wie er aushaltbar ist, obwohl sich in ihm unzählige Unbekannte X befinden. Sicher, das ist bisweilen interessant, amüsant, relevant, aber oftmals ist es ermüdend, deprimierend und hängt mir einfach nur zum Hals raus. Und wenn schon ich angestrengt, genervt, frustriert und ermüdet von diesem Thema bin, wie gehts da erst meinem Umfeld?

Wie reagiere ich beispielsweise, wenn meine Freundinnen und Bekannte, obgleich sie das Wissen über mich und meine Bedürftigkeit und daher Bedürfnisse haben, es mit mir gemeinsam thematisieren, sich für mich und mit mir nicht selten individuelle Lösungen überlegen, obgleich sie sich also hochgradig auf mich einstellen, all das Gesagte vergessen, was ich mit Mühe formuliert habe. Dass ich Angst habe, wenn ich eine Straße überquere, dass ich keine Menschen erkenne, schon gar nicht an der Stimme, dass die vom Brot herabgerieselten Krümel sofort aus meinem Bewußtsein verschwinden, noch bevor sie den Küchenboden berühren und ich daher den Zustand einer Küche nicht aus der Optik sondern dem Gedächtnis rekonstruiere, dass … Hier ist die Anzahl der Beispiele schier unendlich. Was tue ich, falls sie es vergessen? Mache ich sie aufmerksam? Versuche ich zu funktionieren?

Gestern las ich in einem Krimi, nein, ich las nicht, ich hörte, aber das ist ein anderes Thema, also ich hörte, dass ein entscheidender Vorteil des Erwachsenenalters der weitgehende Verlust von Angst sei, das Wissen über bereits gemachte Erfahrungen, es werde sich schon eine Lösung finden. Ich glaube allerdings, das trifft nicht auf Sinnes-Eingeschränkte zu, so sie die Gabe oder den Fluch haben, über alles und jeden nachzudenken. Ich bin zwar davon überzeugt, dass auch nicht eingeschränkte Erwachsene sich gewissen Unsicherheiten (welche Angst produzieren) eingestehen, aber vielleicht herrscht auch ein gewisser Erwartungsdruck von Seiten der Umgebung, keine Unsicherheit empfinden zu dürfen, die eigenen Einschätzungen als richtig zu werten und abzuhaken. Gibt es eine Art Verkehrschild, das ihnen mitteilt: „Gesehen, kapiert, erledigt“?

Ich weiß, abstrakter Quatsch, hier also eine Illustration: Letzte Woche spaziere ich gegen halb vier zurück ins Büro. Vor dem Eingang meiner Arbeitsstätte knäulen sich vier, fünf Gestalten, ich meine eine davon wiederzuerkennen. Ich laufe zwei Meter an ihr vorbei, sie grüßt mich nicht. Nun handelt es sich dabei aber ausgerechnet um eine meiner engsten Kolleginnen. Warum grüßt die mich nicht? Hatten wir so einen Streit, dass sie mich jetzt ignoriert? Oder hat sie mich nicht erkannt? Können die anderen Menschen auf diese Entfernung erkennen bzw. ignorieren? Was mache ich? Gehe ich hin und sage Hallo? Gehe ich vorbei und grüße nicht? Funktionieren oder Bedürfnis zeigen? Ich gehe vorbei und tue so, als hätte ich sie nicht gesehen, tue, als wäre ich in Gedanken, krame in meiner Handtasche, gebe vor, als suche ich etwas, während ich langsam dem Eingang zustrebe. Puh, durch die Tür, ich bin drin. Noch während ich mich von dem Schock erhole, dass mich meine Lieblingskollegin ignoriert hat, oder eine Einschätzung vorzunehmen versuche, ob die Sehenden auf diese geringe Entfernung Menschen trotzdem nicht erkennen (wen könnte ich denn mal nach einer Einschätzung fragen?), in genau diesem Moment kommt eben diese Kollegin mir auf der Treppe entgegen, grüßt mich und wechselt ein paar Worte mit mir.

Unsicherheit, selbst in der stabilsten Beziehung, Angst vor Beziehungsverlust, Angst, alle Seh-Probleme allein lösen zu müssen, Angst vor Fehleinschätzungen… Bin ich nur aus diesen Gründen ein solch kontaktfreudiger Mensch, der Menschen um sich scharrt, damit sie meine Ängste lindern? Nein, ganz sicher nicht! Ich mag meine Menschen um mich herum, ich mag sie sehr! Ich behalte sie nicht, weil sie die Angst in meiner verschwommenen Sicht mildern, sie oft sogar wegzaubern können, wenn sie mich vergessen lassen, dass meine Einschätzungen der Umwelt vielleicht nicht richtig, aber durchaus besonders sind. Aber dann vergessen sie eben auch selbst mal, dass ich sie nicht erkenne, dass ich unverständlich handle, weil ich Situationen anders einschätze, dass ich aus einem Stoff gewebt bin, an dessen Festigkeit sie großen Anteil haben.

Früher habe ich „verdeckt“ gelebt, ich habe zu 90% funktioniert, habe über Fussball im Fernsehen mit den anderen gejubelt, geschimpft oder gelästert, obwohl ich nicht mal den Ball auf dem Spielfeld sah. Habe mich mit für mich Unbekannten unterhalten, die ich offenbar gut kannte, wenn ich den Gesprächen traue, habe die teuersten Lebensmittel eingekauft, weil ich nie um Hilfe bitten wollte, habe Besuche in fremder Umgebung vermieden oder andere Menschen wissen lassen, dass ich ohne sie nicht auf diese oder jene Veranstaltung gehen möchte, weil es keinen Spaß mache… Ich habe zu klein geschriebene Bücher nicht oder in stundenlanger Mühe gelesen, habe umso genauer aufgepasst, wenn jemand darüber gesprochen hat. Ich war ein so-als-ob-Mensch, habe versucht mich zu-ent-hindern. Heute denke ich oft, ich be-hindere mich wieder aktiv, weil es mein Leben erleichtert, wenn es mich auch immer wieder von Neuem beschämt. Heute funktioniere ich zu 50%, tue nur noch zu 50% so, als erkenne ich Menschen, könnte die PPP in einem Seminar lesen, gebe vor, ein per Whattsapp weitergeleitetes Foto oder Video verstanden zu haben, wundere mich mit einer Gesprächsgruppe über die nicht fortschreitenden Baumaßnahmen eines Gebäudekomplexes, auch wenn ich nicht mal bis zum Baumzaun sehen kann…

Warum mache ich das? Weil ich mich nicht von früh bis spät anders machen will als die anderen, gar nicht so sehr, weil ich das alles unbedingt sehen muss.

Aber in 50% meines Lebens erlaube ich mir inzwischen zu sagen: „Seh ich nicht“, „erkenne ich nicht“, „ist zu anstrengend für mich“, „hab ich Angst vor“. Das ist schon soviel mehr als früher, und ich befinde mich noch immer in der Phase zu lernen, dass mir das nicht peinlich sein muss. Dass ich dadurch nicht mehr anders werde, als ich eh schon bin. Dass dieser Kampf zwischen „sollte ich schaffen“ und „schaffe ich nicht“ nicht mein persönlich gewählter Kampf und daher keine intime Angelegenheit ist, sondern dass ich andere bisweilen damit konfrontieren darf. Dass diese Unbequemlichkeit mit mir nicht gleich Beziehungsabbruch bedeutet, dass ich nicht in erster Linie bedürftig bin, sondern liebenswert, fröhlich, schlau, neugierig, begeisterungsfähig, oder vorlaut, gedankenlos, dominant, widerspenstig, anstrengend und eben sehbehindert. Aber eben alles zusammen und nicht nur das.

Vom Sternenhimmel und anderen Wundern

Nach langer Zeit der Ungewissheit und der Wortlosigkeit versuche ich mich mal wieder an einem Thema, das mich aktuell bewegt.

Wenn man ein Leben lang sehr schlecht sieht, sich mit einem Körper in der Welt positioniert, der nicht funktioniert wie diejenigen der Umgebung, dann mag es eine Zeitlang dauern, sich neu in eben dieser Welt zu justieren oder diese und ihre Parameter neu zu betrachten, sobald sich dieses Sehen verbessert. Wenn dazu noch ein Umstand kommt, so dass man nicht mehr als Schlechtsehende identifiziert wird, weil die Fehlstellung der Augen operativ korrigiert wurde, dann potenziert sich diese Verwirrung erst einmal massiv. So bin ich noch immer erst begrenzt dazu in der Lage, die Veränderungen zu benennen, zu beschreiben und ihre Folgen zu interpretieren, kurz, ich bin gerade recht angestrengt und immer wieder sehr verwirrt.

Gut, dass es in diesem meinem Leben Fixpunkte gibt, anhand derer ich vollzogene Veränderungen identifizieren kann – und auch nicht stattgefundene Veränderungen.

Solche neuralgische Punkte meines Arbeitsalltags stellen Fachtagungen dar: in ungewohnter Umgebung Dutzende Menschen kennen zu lernen oder – was heikler ist – bereits zu kennen, sie aber nicht wiederzuerkennen, ist wohl etwas vom Komplexesten, mit dem ich mich auseinanderzusetzen habe.

Nun reiste ich jüngst gemeinsam mit meinem Arbeitsassistenten zu einer Tagung in eine deutsche Kleinstadt, in der sich die Fachcommunity traf. Ca. 100 WIssenschaftlerinnen und Wissenschaftler diskutierten drei Tage in einem Gebäude, das von seiner Beschaffenheit nachgerade ideal für meine optische Einschränkung war: Eingang, ca. 10 Stufen in den ersten Stock, offenes Foyer, eine Anmelde- und Infotheke, nur zwei Tagungsräume, die direkt nebeneinander lagen, Toiletten im Keller, die ca. 10 Stufen wieder hinab und weitere 10 ins Untergeschoss. Bedeutete also, ich konnte mich frei entscheiden, ob ich Vorträge hören, mit Kolleg_innen plaudern, rauchen, Kaffee trinken oder ihn wegbringen wollte, ohne Hilfe von irgendjemandem zu benötigen. Ich freute mich. Sofort schließt sich hier für mich die Frage an, wie eine Tagung gestaltet wäre, damit ich den maximalen Wert davon mitnehmen könnte. Denn die Menschen waren natürlich wie immer: in den allermeisten Fällen unbekannte Gesichter, obwohl ich wahrscheinlich (!) die Hälfte der Anwesenden bereits gesehen, mit ihnen gesprochen oder sogar einen Abend beim gemeinsamen Empfang oder Essen verbracht hatte.

Nun ist das wahrlich kein neues Problem, und ich habe es hinreichend in vergangenen Beitrögen thematisiert. Nach einem beinahe halben Jahr in meiner Wohnung, in der ich, zuletzt reichlich ungeduldig, auf meine Genesung der drei Augenoperationen ausgeharrt hatte, wurde ich womöglich etwas größenwahnsinnig. Ich habe vielleicht die Annahme entwickelt, das bessere Sehen vieler Dinge – des Sternenhimmels, meiner eigenen Zehen in der Dusche (man kann nicht mit Kontaktlinsen duschen, wohl aber mit Implantaten) oder von der Verschiedenartigkeit von Nasen (das dreidimensionale Sehen ist jetzt nicht völlig ausgeprägt, jedoch um ein Vielfaches erhöht zu vorher, wo ich alles nur flach gesehen habe) würde mir auch einen Tagungsbesuch erleichtern. Und das war auch defintiv der Fall. Wege mit Bahn und Bus, Rangieren meines Körpers zwischen Tischen, Stühlen, Fahrrödern, Autos, Straßenschildern und Pollern war längst nicht mehr so mühsam, auch wenn sie mir vorher nicht persönlich vorgestellt worden waren, wie das an meinem Wohnort tausendfach stattgefunden hat. Aber das zentrale Problem, die Menschen, blieben eben wie sie sind, für mich nicht erkennbar.

Was es auf einer solchen Tagung bedeutet, Menschen nicht zu erkennen, will ich hier kurz skizzieren. Erstens bin ich auf Gespräche mit denen angewiesen, die ich gut und daher wiedererkenne, gleichzeitig möchte ich mich von den Gefahrenzonen wie vollen Kaffeetassen oder nah am Tisch abgestellten Flaschen oder Gläsern fernhalten, um keine Dramen zu produzieren. Gibt es also keine bekannte Person in einem Umkreis von 2m (weiter reicht meine Sicht nicht), die außerhalb der Gefahrenzonen steht, bemühe ich mich darum, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, wenn ich allein stehe. Daher unterhalte ich mich dann recht oft mit dem Organisator der Tagung, der darauf bedacht ist, sich mit gerade denen zu befassen, die für sich sind, damit auch sie sich wohlfühlen. Die Frage, ob sich also jemand mit mir unterhält, weil er sich für mich und meine Ansichten – bspw. zum letzten Vortrag – interessiert oder ob er nur höfliche Konversation betreibt, ist nicht einfach zu beantworten.

Allein oder mit dem bekannten Tagungsorganisator zusammenzustehen, ist allerdings die geringste Herausforderung. Als viel heikler stellen sich Situationen dar wie folgende: Ich stehe mit Kollegin Lohse zusammen, die ich selbst auf der Tagung ansprechen konnte, da sie wie stets bei solchen Anlässen die gleiche lindgrüne Jacke trägt, und unterhalte mich angeregt. Wir werden von einem Kollegen angesprochen, der sich für ihr jüngst herausgegebenes Buch interessiert. Er schüttelt ihr die Hand und stellt sich vor, worauf ich ihm ebenfalls die Hand schüttle und mich vorstelle. Er meint etwas genervt: „Ja, wir kennen uns schon.“Darauf erwidere ich: „Ja wir kennen uns von der letzten Tagung…“ Obwohl ich keine Ahnung hatte, ob, wann, wo und vor allem worüber ich mich mit ihm unterhalten habe. Er wendet sich auch sofort wieder von mir ab und beginnt eine Unterhaltung mit Kollegin Lohse über ihre Publikation.

Noch heikler: In der U-Bahn auf der Fahrt zum gemeinsamen Abendessen komme ich mit einer Professorin ins Gespräch, die total beleidgt ist, dass ich sie für so jung halte, dass sie als Studentin durchgeht, indem ich sage: Wer ist ist bei Ihnen in Bamberg jetzt auf der Professur? Das bin ich, antwortet sie völlig indigniert, und als jemand sie beschwichtigen möchte, dass sie das doch als Kompliment nehmen soll, giftet sie nur, dass sie so jung nicht sei und nur das Neonlicht der U-Bahn Schuld sei (das bekanntermaßen extrem ungnädig zu uns jenseits der 40 Befindlichen ist), das sie jünger erscheinen lässt. Nun mit eben dieser Professorin will ich mich am kommenden Morgen gern noch ein bisschen weiter unterhalten, da sie einen interessanten Studiengang beschrieben hat, aber da niemand in der U-Bahn dabei war, den ich am nächsten Morgen noch identifizieren kann, nicht mal die spontan ernannte Begleitperson, die dann kostenfrei mit mir mitgefahren ist, verschwimmen alle Personen, mit denen ich abends zuvor im Gespräch war, in Meer der unbekannten Gesichter ohne Anknüpfungspunkt.

Als mir morgens bei der ersten Kaffeepause dieser Umstand schmerzlich in Erinnerung gerufen wird, während ich mich ein weiteres Mal still in einer Ecke aufgeräumt habe, stelle ich mir den am Abend stattfindenden Empfang vor und entschließe mich zum geordneten Rückzug nämlich heimzufahren. Vielleicht, sinniere ich, werde ich auf Tagungen künftig nur noch am ersten Abend dabeisein, damit ich die Menschen, die ich kennenlerne, am kommenden Tag nicht mehr nicht wiedererkennen muss.

Fazit: vieles hat sich verändert, verbessert, ist weniger anstrengend geworden, aber vieles ist eben auch gleich geblieben. Aber das hätte ich doch wissen können. Habe ich wirklich erwartet, nach den Strapazen der OPs alles Schmerzliche hinter mir zu lassen? Vielleicht habe ich das wirklich. Auf der Tagung habe ich einen exzellenten Vortrag einer jungen Professorin gehört, die ein wenig jünger ist als ich und mich gefragt, ob ich zu derlei Leistungen auch fähig gewesen wäre, wenn mich nicht meine Einschränkung von zahlreichem Austausch und auch vom intensiven Literaturstudium ausgeschlossen hätte. Habe ich dehslab nur so viele Ideen, weil ich andere Menschen und Literatur nicht so intensiv rezipieren kann? Nichts gegen Ideen, wirklich nicht, aber in der Wissenschaft brauchen sie einen Rahmen. Bin ich zu diesem in der Lage?

Besser sehen – was steckt darin?

„Wer mich hinterher fragt, ob ich jetzt besser sehe, ist tot!“ Das textete ich gestern auf die Frage einer Freundin, ob ich nach der OP besser sehe als jetzt, das wäre doch super.

Das war nun, zugegeberweise, sehr aggressiv und fast unfreundlich. Ich habe lang darüber nachgedacht, warum mich ihre Worte so erzürnt haben. Zum einen ist es die Erinnerung aus der Kindheit an die enttäuschten Erwartungen der Eltern, wenn eine OP mal wieder nicht den gewünschten Effekt erzielt hatte. Was aber noch hinter einer solchen Frage steht, ist die implizite Aussage, dass der Ist-Zustand ungenügend ist, dass also ich ungenügend bin. Das stellt nur für mich bei allen Schwierigkeiten mit der Außenwelt und ihren Seh-Anforderungen an mich dennoch eine gewisse Absurdität für mich dar. Denn so wie ich bin und lebe, bin ich doch komplett und nicht weniger perfekt. Warum freuen sich andere für mich, wenn ich besser sehe als vorher? Was haben sie denn persönlich von einem solchen Umstand? Ihre Freude darüber kann also nur bedeuten, dass sie mit mir, wie ich gegenwörtig sehe, nicht zurechtkommen. Aber schränke ich andere mit meinen scheinbaren Defiziten so ein, dass sie sich für mich ein besseres Sehen wünschen? Das habe ich früher geglaubt, als ich noch ein Opfer der Erziehung der 70er Jahre war, als alle Kinder perfekt gesund sein mussten. Heute habe ich diesen Fehlschluss überwunden, muss aber weiter fragen, worin der Sinn liegen muss. Eine Schlussfolgerung kann sein, dass sich andere Menschen nicht vorstellen können, dass Sehen nicht allein das Leben bestimmt. Besser zu sehen hieße für mich in erster Linie, besser mit der äußeren Welt in Kontakt zu stehen, meine Effizienz zu erhöhen, besser zu funktionieren, teilzuhaben an Aktivitäten, die sich die Seh-Welt ausgedacht hat. Skifahren, Portraitzeichnen, Notenlesen, In-die-Augen-Schauen und Anlächeln… Naja, letzeres weist darauf hin, dass die Seh-Welt sich diese Alltagspraktiken nicht nur ausgedacht hat, sondern dass sie auch in Bezug auf zwischenmenschlichen Kontakt anders agiert. Bleiben wir erst einmal bei der Action für Sehende, die ist leichter zu fassen. Jeder Mensch wählt aus Aktivitäten gemäß seinen Vorlieben und seinen Fertigkeiten aus. Ich habe hier quasi eine vorgelagerte Bedingung, die ich mir nicht ausgesucht habe. Ich überprüfe meine Tauglichkeit auf die Passgenauigkeit mit der jeweiligen Beschäftigung und sortiere alles aus, was potenziell gefährlich für Leib und Leben ist. Dass diese Einteilung seit wenigen Jahren nicht mehr in Stein gemeißelt sind, zeigen Beispiele einer blinden Aplinskifahrerin und ähnliches. Mehr und mehr können die Umstände an individuelle Bedürfnisse angepasst werden. Auch ich persönlich profitiere immer wieder von den Innovationen in den verschiedensten Bereichen. Auch wenn diese meist längst nicht meinen hohen Ansprüchen gerecht werden, sind hier beeindruckende Neuerungen wie das Leitsystem auf vielen Straßen entstanden. Und ich möchte hier nicht falsch verstanden werden, die Gesellschaft tut wirklich eine ganze Menge, um die Ungerechtigkeit der Geburtslotterie auszugleichen, und das schätze und bewundere ich. Ist es nun als dieses alltägliche Handeln, das mir das Leben erleichtern soll, wenn andere sich freuen oder gar erwarten, dass ich besser sehen kann, wenn ein operativer Eingriff erfolgreich ist? Bedeutet das, dass ich anderen zu langweilig bin, dass man nichts gescheites und spannendes mit mir unternehmen kann? Ich glaube nicht. Was also dann? Soll ich Auto fahren können, weil ich gerade das so gern täte? Oder soll ich weniger Mühe beim Arbeiten, Lesen, Kinogehen dadurch erhalten? Was wünschen sie sich denn für mich, diese gut sehenden Menschen? Einigen wir uns einmal darauf, dass ich nicht langweilig bin, dass auch diese Menschen merken, dass ein ein übervolles, ein wirklich erfülltes Leben habe. Denken sie also an die vorher erwähnten zwischenmenschlichen Kommunikationswege, die ich nicht einschlagen kann? Ich wünschte, ich könnte ihnen erklären, wie sehr mich ein unbedachter aggressiver Unterton in der Simme ängstigt, ein nebenbei heruntergefallenes Wort von Abscheu oder Abwertung. Ich höre darin, was andere Menschen wohl in den Gesichtern ihres Gegenübers lesen. Aber Gesichtsausdrücke haben für sie Macht im Gegensatz zu dem Tembre einer Stimme, wenn sie aufgebracht, eingeschüchtert oder verwirrt ist. Ich selbst mache ja auch Gesichter, ziehe Grimassen, aber ich tue dies nur für mein Gegenüber und für die Ausdrücke in der Stimme, die bisweilen einen bestimmten Gesichtsausdruck benötigen. Ich wünschte, mir nahe Seh-Menschen würden sich auf folgendes Experiment einlassen: sie setzen sich an ihren Küchentisch und haben einen leeren Stuhl gegenüber. Erst sollte der Stuhl angelächelt werden, ich glaube, das geht leicht. Jetzt solllte diesem Stuhl aber einmal ein richtig böser Blick zugeworfen werden. Geht das? WIe fühlt es sich an? Ist nicht erst die Reaktion des Gegenübers Bestandteil des Blicks, der ihm zugeworfen wird? Macht nicht also erst die Reaktion den Blick zu einer Aussage? Ich denke schon. Aber ich bin gänzlich unvertraut mit Blickkontakten. Ich schaue Menschen zwar an, aber ihre Mimik erschließt sich mir nur in Kombination mit Atmen, Räuspern, Kichern oder zustimmenden bzw. widersprechenden Geräuschen. Ich sehe in Augen keine Gefühle, freue mich indes, wenn ich bei bestimmtem Licht sehe, welche Augenfarbe mein Gegenüber hat.

Was nun also ist es, das sich andere Menschen für mich wünschen, wenn sie scheinbar mit mir hoffen, dass ich einaml besser sehen werde können. Soll mein Leben etwa noch besser dadurch werden? Ist es denn nicht schon mehr als genug? Bin nicht ich schon mehr als genug?

Die Tücke von Farben und Formen

Warum mag ich Dinge so gern? Warum hasse ich sie so sehr? Habe ich mich hier dazu schon einmal geäußert? Heute möchte ich mit der Reihe „Objekte“ in diesem Blog beginnen, auch wenn ich sie nicht durchgeplant habe. Aber es gibt immer wieder neue Zugänge oder Grenzen der Zugangsmöglichkeiten, die mein Sehen zur Ursache haben, so dass ich glaube, dass die Beschäftigung damit noch sinnvoll und auch ein bisschen lustig sein dürfte.

Für mich sind Gegenstände nicht besonders formreich, dafür extrem farbintensiv. Vor allem, wenn sie deutliche Kontraste zum Untergrund bilden, von dem sie sich abheben, werden sie überhaupt nur von mir registriert. Deswegen sind so Unerfreulichkeiten wie durchsichtiges Material oder gar durchsichtige Flüssigkeiten für mich erst existent, wenn sie bereits ihr Unheil angerichtet haben. Wie oft würde ich mein Smartphone in eine vom Wasserkocher verursachte Lache legen, wenn ich nicht vorher mit den Fingerspitzen ganz sacht über die Oberfläche gestrichen hätte. Wie oft habe ich morgens die Socken gewechselt, weil ich in eine selbst verursachte Pfütze hineingetapst bin. Ach wäre doch Wasser rotweinrot!

Zurück zu den Formen: Eben kam ich in die Küche und erlitt einen ordentlichen Schrecken, denn da lag doch wahrhaftig noch eine gekochte rote Bete auf der weißen Arbeitsplatte! Wie konnte ich die denn gestern vergessen??? Ich achte doch so peinlich darauf, gerade diese farbintensiven Saftschleudern nur im Spülbecken und unter höchster Konzentration auszupacken, zu verarbeiten und in andere Töpfchen zu befördern, damit sie weder den Boden, noch die Wände noch meine Kleidung oder Hände einfärben. Ich nähere mich also sehr behutsam der vermeintlichen Knolle, beäuge sie von allen Seiten, ohne sie dabei zu berühren. Wer gekochte rote Bete kennt, wird wissen warum. Ist sie doch eine sehr glitschige und wendige Gesellin und könnte bei dem geringsten Stupser von der Arbeitsplatte kullern und sich einmal quer durch die Küche kugeln. Natürlich nur, indem sie einen Gutteil ihres herrlich violett roten Saftes auf allen benachbarten Gegenständen hinterlässt. Nein, das bitte nicht! Ich bewege einen Finger ganz vorsichtig in die Richtung der Knolle und gebe ihr einen kaum wahrnehmbaren Schubs, nichts, sie rührt sich nicht. Warum ich das wage? Weil ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt bin, dass es nicht sein kann, dass ich die Schwester derjenigen, die ich gestern Abend verspeist habe, auf der vollgestellten Arbeitsplatte habe liegen lassen, so umnachtet bin ich nicht, auf keinen Fall.

Das Ding, von meiner insektenflügelgleich zarten Berührung gänzlich unbeeindruckt kann also keine rote Bete sein. Was dann? Was für einigermaßen runde Gegenstände in rot besitze ich, zerbreche ich mir mir den Kopf, doch ich komme nicht drauf, obwohl ich im Geiste all die Dinge durchgehe, die in den letzten Tagen in meine Küche gewandert sind. Ungefährlich, beschließe ich, und greife nun vorsichtig zu, ertaste weiches Material, samtig. Achso, ein Haarband. Wie doof, daran hättest du dich doch erinnern müssen, hast du doch extra vorhin für Freundin XY rausgesucht und wolltest es in deine Tasche packen.

Gekochtes Gemüse und ein Samtband für die Haare haben wenig miteinander gemeinsam, aber indem sie in meinem Kopf miteinander verbunden werden (mussten), haben sie meine Gedanken in eine bestimmte Richtung gelenkt. Was existiert außer diesem noch in meiner Welt, was nicht das ist, wofür ich es halte? Welchen Eindrücken darf ich trauen? Welche Maßnahmen der Erkenntnisgewinnung kann ich noch ersinnen, um der Wahrheit näher zu kommen?

Heute ist das ja alles scheinbar so einfach. Wenn ich wollte, könnte ich mit meinem Smartphone ein Foto von dem unbekannten Ding machen und es jemandem schicken, der mir garantiert sofort eine Antwort darauf gibt, was ich da zu sehen meine. Herrlicherweise gibt es auch in meinem Freundeskreis 40+ einige Menschen, die so daueronline sind, dass eine Antwort nicht erst nach Austrocknen jener roten Bete zu erwarten wäre. Notfalls gibt es auch eine weltweite Community, die bei „Be my eyes“ mitmacht und eine sofortige Antwort quasi garantiert.

Ich geb’s zu, in diesem speziellen Fall hätte ich wohl kein Foto gemacht, denn der Schaden war einigermaßen kalkulierbar. Aber wer schon mal im Süden war und sich der zahlreichen Population jedweder Krabbeltiere permanent bewußt war, die die Hitze ebenso schätzen wie wir Mitteleuropäerinnen, der wird gewiss verstehen, welche Ängste ein schwarzer Fussel auf der Badematte erzeugen kann!

Wäre die Welt, so wie ich sie mir wünschte, gäbe es keine Gegenstände, die Flecken machen, die lautlos auf den Boden tropfen, die scharfe oder spitze Eigenschaften haben, ohne es mir mitzuteilen… Wo hört das auf? Na gar nicht, außer ich könnte sie ansprechen und sie würden mir antworten. Dann könnte ich doch jetzt eben mal in den Kühlschrank reinrufen: „Was soll ich heute Abend aus Dir kochen, rote Bete?“

PS Meine Mitbewohnerin ist mit soviel Empathie ausgestattet, dass sie auf eine unglaublich zartfühlende Art mit der SMS „Rote Beete sind ein Kreuz!“ mitteilte, dass man diese Beete mit 2 „e“ vorn schreibt, also wie Beet. Doppelbuchstaben sind mir immer ein Greuel, aber auch „m“ und „n“ fallen dem schlechten Sehen zum Opfer. Ich musste weit über 40 werden, bis ich erfuhr, dass es nicht Istambul sondern Istanbul heißt.

 

 

(Schutz)-Zauber Dunkelheit

Ich habe ein paar wenige sehr gute Freunde, und manchmal frage ich mich, was sie alle gemein haben. Es sind allesamt Menschen mit sehr unterschiedlichen Prioritäten. Manchen ist der Tierschutz wichtiger als das zwischenmenschliche Miteinander, manche merken nicht, wie sehr sie mit ihrer Exzentrik, ihrem Egoismus oder ihrem Pflichtbewusstsein gegenüber der Arbeit andere Menschen bisweilen einschränken, wieder andere pflegen hohe Ideale von Ästhetik und sind sich ihrer Normativität nicht bewusst… Klingt, als würde ich nur schlecht über sie reden und denken, aber das Gegenteil ist der Fall. Denn sie alle haben etwas, woran sie glauben, das sie hegen und womit sie sich identifizieren. Immer wenn etwas priorisiert wird, wird ein anderer Umstand vernachlässigt, wo gehobelt wird, fallen Späne. Faszinierend ist für mich, wie sehr wir alle den einen Teil unseres Lebens akribisch der Selbstreflexion unterziehen, bei einem anderen wiederum keinerlei Bewusstsein dafür entwickelt haben.

Und ich, frage ich mich dann? Welche Prioritäten setze ich selbst? Welchenen Ideals bin ich Sklavin? Lachhaft und unreflektiert zu antworten, ich lasse mich nicht unterwerfen, denn vielleicht bin ich die Meistersklavin meiner Ideale. Und was sind es denn nur für Ideale, da scheint sich ja schon etwas zusammenzubrauen. Ich glaube, Ideale kann frau sich nicht wählen, sie erringt sie mittels Anlagen oder dem Wunsch nach Kontrasten zu diesen Anlagen in frühster Kindheit. Eines meiner Ideale lautet: ich will nicht stören. Das ist eine meiner Anlagen, war ich doch stets ein störendes Kind. Nun habe ich oberflächlich den Weg des Kontrastes gewählt, die Komfortzonen der Umgebung zu stören, nicht dem Mainstream zu entsprechen (das geht bis in die Tiefen der Weigerung eines störarmen Erscheinungsbildes) und einige störungsvolle Techniken der Lebensführung zu wählen. Oberflächlich betrachtet habe ich mich also von der Anlage des Störens emanzipiert.

Und unter dieser Oberfläche? Da ist mein Streben und Sinnen von früh bis spät, meine Mitmenschen nur ja nicht zu stören. Das beginnt mit der Entfernung eigener Gegenstände aus geteilten Wirkungsbereichen anderer Menschen, setzt sich fort in Form der Sorge, im Bus im Weg zu stehen, jemand anderes Weg zu kreuzen, so dass diese Person ausweichen muss oder ein Fahrzeug zu behindern, weil ich einen Zebrastreifen überqueren möchte, und es endet am Abend mit dem Entfernen von Zahnpastaresten im Waschbecken oder im mehrmaligen Schrubben von zuvor verschmutzen Flächen oder Vertiefungen. Der Stachel der Sorge bleibt dennoch in meinem Fleisch stecken wie Arsen: war ich jetzt im Weg und hat sich jemand mir Teures über mich geärgert? Habe ich das Bad sauber hinterlassen? Tja, was Du halt so sauber nennst, sagt das fiese kleine Stimmchen in meinem Kopf. Du siehst doch nicht mal ein Haar auf der weißen Kachel, wie bildest Du Dir ein, den Grad selbst verursachter Verschmutzung beurteilen zu können?

Das Ideal der Störarmut also. Und was hat die Dunkelheit damit zu tun? Nun, sie beschützt mich oder würde mich beschützen, wenn sich meine Umgebung auf sie einließe. Denn in der Dunkelheit muss ich nicht so tun, als interessiere ich mich für die Ansicht meines Gegenübers, in der Dunkelheit brauche ich mir nicht ins Gedächtnis zu rufen, dass andere durchaus sehen, wie ich mir in der Nase bohre, an den Füßen kratze oder die Finger zu Hilfe nehme um zu wissen, wie voll die Tasse noch ist. Ich muss mir keine Gedanken machen, wie viel der Herr Nachbar sieht, wenn er in mein Fenster späht, ob da etwas auf dem Tisch liegt oder die Pfeffernühle einen Schatten wirft. Eine Unterhaltung völlig im Dunklen, ein Traum für mich, für die Sehenden ein Albtraum. In der Dunkelheit sind wir Stimmen, sind wir alle gleich, haben wir nur dieses eine Ausdrucksmittel und können uns darauf konzentrieren, wie würde ich es mir oft wünschen.

Selten sind die Momente, wo dieser Wunsch von mir einmal erfüllt wurde. Es eignet sich meist nur das Bett, denn in ihm fühlt sich auch der Sehende sicher genug, um auf den wichtigsten Sinn zu verzichten. Das wiederum reduziert leider den Personenkreis potentieller GesprächspartnerInnen gehörig, obwohl ich mir oft nur das etwas andere Bettgeflüster wünschen würde.