Und weil’s so schön war, nochmal mit Audio-File.

Och nö, noch ein Beitrag zum Mundschutz? Hattest Du doch schon, Du schreibwütiges Sehunbegeuer. Fällt Dir denn nichts anderes ein, als auf den rausenden ICE zur aktuellen Masken-Diskussion aufzupringen?

Erstens springe ich nicht auf ICEs auf, sondern ich warte geduldig und demütig, bis alle anderen Passagiere eingestiegen sind und taste mich danach vorsichtig die drei Stufen in den Zug hinauf. Zweitens ist es eine andere Betrachtungsweise zum Mundschutz, die ich heute zu Protokoll geben werde. Und bittschön wirf mir drittens nicht meine Schreibwut vor! Schreiben macht frei, frei von den Gedanken und Gefühlen über mir vorher Unverständliches.

Was glaubst Du, hast Du denn Neues beizutragen zu dem Thema Maske? Meinst Du ernsthaft, Du könntest damit noch den aufgewecktesten Kater hinterm Ofen hervorlocken?

Heutzutage machen es sich Katzen nicht mehr hinterm Ofen bequem,  wir haben in der Regel Zentralheizung. Und ich wöre Dir sehr dankbar, wenn Du etwas Geduld walten ließest, damit ich meinen Standpunkt entwickeln kann.

Dass Menschen sich Stoffstücke ins Gesicht hängen, die sie als Blusen, Hosen, Mäntel, Kleider wohl niemals tragen würden, verwundert mich besonders, wenn ich Angebote für Masken auf den Kanälen der Social Media verfolge. So wilde Muster und Farben, wie sie hier feilgeboten werden, erinnern mich an die Geschmacksverirrungen der 1970er Jahre, die man euphemistisch psychodelisch nannte. Sollte ich wirklich derlei Farbkombinationen und Musterungen sehen, wenn ich LSD nehme, dann verzichte ich dankend auf diesen Trip. Schaue ich mir solche in der Betriebsamkeit der DIY (do it yourself) genähte Erzeugnisse schlechten Geschmacks genau an, wundere ich mich doch sehr, was sie auf dem gewiss attraktivsten Teil des menschlichen Körpers, nämlich dem Gesicht, zu suchen haben. Ich wüsste zu gern, ob die Stoffe ausgemusterten (im wahrsten Sinne des Wortes) Kleidungsstücken entnommen  oder ob sie mit Bedacht und in vollstem Bewusstsein, etwas Farbe in das triste Dasein zu bringen, als Maskenstoff ausgewält wurden. Wie gesagt, ich sehe sie deutlich nur in meiner Bildschirmvergrößerung, im Alltag gestaltet sich das anders.

Letzte Woche stolperte ich, bemundschutzt von meiner äußerst kleidsamen auberginenfarbenen Maske durch den Supermarkt und erschrak ganz fürchterlich, als mir ein Mensch in einem Gang entgegenkam. Um Gottes willen, der ist ja voller Blut, schoß es mir durch den Kopf, und sicherlich habe ich ihn völlig entsetzt angestarrt. Erst als ich darüber nachdachte, wie realistisch es ist, dass ein gerade vom Bus angefahrener Mann, dessen Gesicht blutübersträmt ist, im Supermarkt nach Asia Sauce sucht, fiel mir ein, dass er wohl eine schwarzrotgemusterte Maske tragen müsse. Kontraste sehe ich gut, Einzelheiten verschwimmen zu einem Einheitsbrei, und das Gehirn verbindet offenbar mit rotem Brei vor allem Blut. Bißl ekelig, ‘tschuldigung! Da sitzt ‘ne Frau mit Bart im Bus, warum hat er denn solche riesigen weißen Flecken im Gesicht, hat der ‘ne seltene Hautkrankheit? Solche und andere skurile Beobachtungen machte ich in den ersten Tagen der Mundschutzpflicht. Ist es für mich in der Regel schon schwer genug zu unterscheiden, ob es sich in meinem Gegenüber um Männlein oder Weiblein handelt, ist es jetzt schon beinahe unerheblich. Denn man redet ja eh nicht mehr miteinander dieser Tage. Die Menschen verschwimmen mehr und mehr zu einer undefinierbaren Masse aus bizarren Farben und Formen, werden beliebig in ihrer Ununterscheidbarkeit. Und werden mir dabei ein ganzes Stückweit mehr egal. Meinen Langstock nehme ich inzwischen überall hin mit um klarzustellen, dass ich nicht gut im Abstandhalten bin. Denn jetzt sind es nur noch solche Kommentare, mit denen ich gemaßregelt werde. Die neugierigen und vielleicht mitleidigen Blicke sind der Selbstsorge gewichen, und ich kann mich wieder frei und fröhlich daneben benehmen. Kann unbemerkt meine maskierte Nase an Lebensmittel kleben, um die Beschriftung auf ihnen zu lesen, kann langsam und mit viel Abstand Treppen erklimmen oder unwegsames Gelände unbekümmert erkunden, wie es meinen Bedürfnissen entspricht, ohne Angst oder Scham vor zuviel Beobachtung. Feine Sache so ein soziales Cooldown, denn es desensibilisiert mich gegen die Blicke anderer. 

Sag mal, bist Du denn noch gescheit? Wir haben hier alle Angst vor den Folgen des social distancing und Du feierst das noch? 

Hallo? Das ist mein Blog, und heute rede ich mir das schön und freue mich über das geringe Interesse an meinem Mehraufwand mit Gegenständen, Wegen oder dem Verkehr. Nächste Woche reflektiere ich dann wieder, wie schwer es für behinderte Menschen ist, sich nicht mehr auf die spontane Hilfe aufmerksamer Beobachter in ihrer Umgebung verlassen zu können. Aber heute habe ich noch einen anderen Aspekt auf Lager. Darf ich jetzt mal weiter nachdenken?

Na gut, aber ich bin schon sehr gespannt, was Dir noch einfällt, diese für uns alle so schwierige Situation schön zu reden.

Um den Faden wieder aufzunehmen: ich fühle mich befreit von den Blicken der Kontrolle durch meine Umgebung, seitdem alle mit sich und ihrer Sorge vor Ansteckung befasst sind. Aber eine weitere Form der Befreiung hat in meinem Kopf eingesetzt. Denn es gibt ja nicht nur die Selbsterzeugnisse, die sich die Menschen um Mund und Nase binden, die meine Phantasie in Blut, Bärte oder Pusteln im Gesicht wandelt, es gibt ja auch noch die OP-Masken. Nun kenne ich und sicherlich viele andere Menschen diese OP-Masken seit frühster Kindheit. Das Gespenst, das mich jahrelang durch meine Alpträume gejagt hat, war grün, OP-Kittel-grün. Die Assoziationen zu diesem Grün, vor allem im Gesicht, erzeugen in mir noch im Erwachsenenalter Abscheu und haltlose Panik. Aber jetzt? Jetzt rennen lauter Geister durch die Stadt, kassieren meine Lebensmittel ab und sprechen und lachen gar mit mir, sie nehmen mir die Angst. Ein um den Hals baumelnder Mundschutz in OP-Kittel-grün erzeugt inzwischen in mir keinerlei Emotionen mehr, ich bin kurz davor, seine ehemalige Wirkmächtigkeit auf mich zu vergessen. Danke Mundschutz! Schließlich weiß man ja nie, wann es mal nützlich sein kann, bei Ansichtigwerdens von OP-Kleidung nicht von Panik überwältigt zu werden. 

3 Gedanken zu “Der Mundschutz – die wirksamste Desensibilisierung der Welt

  1. hab mich schlapp gelacht = soooo funny!!! unbedingt jetzt mal an die taz ran: waltraud schwab!!! umärmelung, ina

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  2. Köstlich!
    Mein iPhone hat mir neulich mitgeteilt, dass es mir nun noch schneller die Code-Anforderung präsentieren kann, wenn Face-ID wegen des Tragens einer Maske nicht funktioniert. Jetzt frage ich mich gerade, ob das bei Nasenbluten auch funktioniert…

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