„Ich geh gern für dich einkaufen“, „Wenn Du Hilfe brauchst“, „Sollen wir uns mal treffen und uns 1,5m auseinander setzen und ein bisschen quatschen?“

Zuerst bedenken wir einmal die derzeitige Situation und erinnern uns an den letzten Blogeintrag, in dem ich ausdrücklich darauf hinwies, dass angesichts der gegenwärtig herrschenden Corona Krise die Thematik des Blogs keine akute Brisanz aufweist. Außerdem finden durch das social distancing gegenwärtig nur wenige Begegnungen zwischen der Umwelt und mir statt. Und ich meide sie auch bewusst, entziehe mich derlei Angeboten aus meinem Freundeskreis. Kann ich beim Einhalten der gegenwärtig herrschenden Regeln doch kaum meine kommunikative Kompetenz einbringen, wo visuelle Kommunikation dominant ist.

Zu abstrakt?

Ich habe die letzten beiden Wochen immer wieder darüber nachgedacht, warum ich es so entsetzlich finde, mich mit meinen Freunden und Freundinnen zu treffen, mich ihnen aber nur bis auf eine Distanz von 1,5m zu nähern. Wer nicht in das Gesicht eines anderen Menschen schauen und seine Emotionen davon ablesen kann, entziffert diese aus seiner Stimme und reagiert, wie ich meine, mindestens so sensibel darauf wie der oder die Sehende auf Mimik. Wer auf die Körperbewegungen eines anderen Menschen nur aus der Nähe reagiert, Gesten, Veränderungen von Sitzpositionen etc., für den verliert das Gegenüber mit steigender Distanz an Individualität. Eine Person wird nicht mehr als einzigartiges Subjekt identifiziert sondern verschwimmt zu einer generalisierbaren Kontur des Homo sapiens. Sehe ich meine Freundin Sonja aus der Nähe meiner Ansicht nach recht gut, für mich völlig normal, weil ich sie ja nie anders wahrgenommen habe, löst sich ihre Person in einer Entfernug von 1,5,m in einen Nebel aus hell und dunkel auf, wird zu einem Teil der undefinierbaren und undefinierten Umgebung, für die ich mich genau aufgrund ihrer Unbestimmbarkeit nicht sonderlich interessiere. Dazu kommt die akustische Distanz, filtern 1,5m Abstand doch für mich relevante Informationen über das Befinden meines Gegenübers aus der Stimme heraus, so dass ich nicht mehr angemessen auf es reagieren kann, wie ich finde. Das instinkte Näherrücken an eine Person im Moment des Nicht-Hörens ist mir in den letzten beiden Wochen zweimal passiert, das Zurückweichen des Gegenübers empfand ich dabei als sehr demütigend und gleichzeitig als distanzlos meinerseits.

Wirklich interessant daran finde ich die Überlegung, dass in meiner Wahrnehmung offenbar physische Präsenz ab einem gewissen Abstand zwischen mir und dem Gesprächspartner oder der Gesprächspartnerin massiv an Bedeutung einbüßt. Denn nun ist es ja so, dass ich in meinem beruflichen Alltag permanent mit Begegnungen beschäftigt bin, die das Maß von 1,5m bei weitem überschreiten. Welche Bedeutung messe ich ihnen bei, wenn sie sich mir nur unspezifisch und nebulös präsentieren? Bin ich genau aus diesem Grund in Sitzungen viel mehr an den Inhalten des Gesagten als an den Sprecherinnen und Sprechern und ihren Motiven interessiert? Kopple ich ihre Aussagen, Meinungen, Lösungsvorschläge, aber auch ihre Eitelkeiten und ihr Hierarchiebestreben von ihren Personen ab und ordne sie dem Kontext des Problems oder der Sitzung zu? Schwierig, in situ so etwas zu denken, dafür bräuchte ich Sitzungen, gibt‘s grade nicht im Angebot.

Heute, in diesen schwierigen Zeiten, sagen viele von uns „Danke“ zu den sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen, die die Gesellschaft am Laufen halten, indem sie in Kliniken, der Kinderbetreuung, in Arztpraxen oder Supermärkten die Stellung halten. Viele sprechen bereits jetzt von einem breiten gesellschaftlichen Umdenken, einer Veränderung im Bewusstsein jedes und jeder einzelnen für die Bedürfnisse der Schwächeren, diagnostizieren eine höhere Hilfsbereitschaft, selbst wenn diese in der Zeit von sozialer Isolation und dadurch der individuellen Bedeutungslosigkeit der Selbstaufwertung dient.

Die gute Nachricht ist, Du musst nicht mal absichtlich die Probe aufs Exempel machen um zu sehen, wie weit die Hillfsbereitschaft geht. Meine mühsam erarbeitete Autonomie aufzugeben, davon sprach ich in meinem letzten Beitrag, ist ein großes Opfer, das ich in dieser Zeit der Corona-Krise bringen soll. Manchmal mag ich, öfter aber mag ich‘s nicht bringen. So begab ich mich auch gestern wieder einmal auf die Jagd nach Klopapier und anderen Versorgungsgütern des täglichen Lebens. Spazierte beschwingt auf dem Trottoir dahin, sah aus der Entfernung ein grünes Blattwerk in Kopfhöhe, dem ich mich langsam näherte, schenkte ihm aber weiter keine Beachtung. Bis mich dieses Blätterdach mit voller Wucht am Kopf traf, eine knorrige Astgabel hatte sich hinter den zarten jungen Blättern verborgen. Finger an den Schädel legen, okay, kein Blut, nur Schmerz. Ich stand zehn Minuten reglos neben dem bösen Baum und versuchte mich zu sammeln. Aus meinen vergangenen Erfahrungen würde ich sagen, dass eine verstörte tränenübertströmte Frau, die mit Langstock neben einem Zaun steht, durchaus die Aufmerksamkeit der vorbei radelnden oder laufenden Pasanten erregt hätte. Nicht so in Zeiten des social distancing. Wüsste ich nicht um die Kraft der Einbildung, würde ich sogar behaupten, dass ich absichtlch übersehen wurde, denn los war wahrlich genug auf diesem Geh- und Radweg.

Ich weiß gar nicht, was ich im Nachhinein schlimmer fand: den Schlag gegen den Kopf oder die Demütigung, völlig hilflos und gleichzeitig unbeachtet in der Öffentlichkeit verharren zu müssen. Das kratzt am Stolz, ohja. Diesen habe ich damit befriedigt, dass ich danach nicht difrekt nach Hause gestolpert bin sondern die Zähne fest zusammegebissen und die Einkaufsnummer durchgezogen habe. Aber künftig in das allgemeine „Haleluja, die Welt wird angesichts der Katastrophe sozialer“ einzustimmen, dieser Versuchung werde ich wohl nicht mehr erliegen.

Was mich übrigens nachhaltig verstimmt, ist die Ausweglosigkeit aus dieser Situation, die ich täglich neu abwägen muss. Geh ich selbst mit Risiko, geh ich nicht und bin angewiesen auf Zeitslots, Ladenwahl und Konzentration der hilfsbereiten Einkäufer_innen, darf ich überhaupt Ansprüche stellen an Hilfsbereite…, warum muss ich mich überhaupt mit derlei befassen?

Ein Letztes: Vorhin hörte ich in einem Podcast über Sehbehinderung in der Corona-Krise folgenden, frei wiedergegeben Satz: „Sehbehinderte und Blinde haben selbst in der Corona-Krise den Wunsch nach Autonomie.“ Ach ne! Na, sowas, wie das denn? Ist es so ein Frevel, autonom sein zu wollen? Muss ich mich in diesen schwierigen Zeiten an die Vorgaben und gebotenen Abstände halten? N Scheiß muss ich! Oder doch?

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