Natürlich kann ein Blog am 20. März des Jahres 2020, sollte es nicht das letzte sein, das dieser Planet bevölkert erleben wird, nicht ohne die Auseinandersetzung mit der aktuellen Lage und der Bedrohung durch COVid 19 geschrieben werden.
Ich befinde mich in einem Gewissenskonflikt, den ich an den Anfang stellen möchte: Der Blog als solcher ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, die Sichtweisen und Alltagshemmnisse eines sehbehinderten Menschen darzustellen und zu reflektieren. Er beinhaltet also hier eine gwisse thematische Einschränkung von vorneherein. Welchen Stellenwert aber haben diese persönlichen Sichtweisen, die auch in Zeiten der gegenwärtigen globalen humanen Krise andauern, noch im Angesicht derselben? Noch bin ich gesund, noch kenne ich niemanden, der an dem Virus erkrankt ist, im Sterben liegt oder gehen musste, noch ist meine soziale und ökonomische Situation nicht im Mindesten bedroht, noch habe ich nicht psychisch allzu sehr unter der sozialen Isolation zu leiden. Wie kann ich es mir anmaßen, mich angesichts einer soviel gravierenderen Katastrophe noch immer noch mit mir und meinen Einschränkungen zu befassen, die doch gegenwärtig so unbedeutend und irrelevant sind? Warum tue ich das? Ganz einfach: weil ich‘s kann. Weil es zur psychischen Hygiene gehört, und weil es vielleicht ein interessantes Zeitdokument werden kann, wie jeder und jede es heute schreiben könnte, der oder die diese Zeit erlebt. Dennoch bin ich mir dessen bewusst, dass das, was nun folgt, aus einer prinzipiell extrem komfortablen Position heraus geschrieben und gedacht wurde. Eine Position, wie sie gegenwörtig wahrlich nicht alle Menschen auf diesem Planeten haben, denen mein Mitgefühl hier gehört.
Schon kurios, was der Kopf mit einem Geist so veranstaltet. Eigentlich bin ich eine Stubenhockerin, die soviel lieber im Kopf spazieren geht als in der Sonne. (Die Stolperfallen im Kopf führen zwar auch bisweilen zum Sturz und zu Verletzungen, sind aber meist mit weniger und eigenem Engagement heilbar.) Seitdem uns eine baldige Ausgangssperre droht, bin ich zur Frischluftfanatikerin geworden, als würde ich nochmal so viel Natur und Sonne einsaugen wollen, wie es irgend geht. Ich lasse mich sogar auf Expeditionen mit dem Navigationsgerät für Fußgänger_innen ein, wage mich auf unbekannte Pfade und empfinde größte Befriedigung an den Herausforderungen fremder Kreuzungen, Kurven und Wege, die auf diverse Privatgelände führen. Meine Abenteuerlust diesbezüglich lässt sich nur schwer zügeln, so machte ich mich auch gestern wieder auf den Weg in ein mir persönlich nur sehr schemenhaft bekanntes Einkaufszentrum ca. 3km von zu Hause entfernt. Das herrlich Sportliche daran, die korrekte Route nicht direkt zu finden, denn so ein Navi ist ja auch schnell zu irritieren und irritiert dann mit falschen Aussagen, ist der Umstand, dass ich immer mind. einen Kilometer mehr laufe als diese Angabe. Nach einer Stunde war ich am Ziel und musste sehr schnell feststellen, dass der Eingang des Supermarkts einer Schleuse für ein Konzert glich, überall Absperrgitter, Sicherheitsleute, immerhin keine Taschekontrolle. Als ich sie um Hilfe bat, eröffnete sich mir das erste Problem. Ich durfte mich ihnen nicht so nähern, als dass ich eine für mich akzeptable Distanz erreichte, um ein Gespräch zu führen. Die 1,5m geforderten Abstandes zwischen zwei Menschen sind genau die Entfernung, in der ich einen Menschen gerade so nicht mehr erkennen kann. Nach der für mich etwas uneindeutigen Kontaktaufnahme mit dem Supermarkt-Security-Guy wurde mir mitgeteilt, dass ein Einkaufswagen unerlässlich sei, denn maximal dürften gleichzeitig 250 Personen in den wirklich großen Supermarkt. Nun bin ich keine Freundin eines solchen, das Rangieren damit zwischen Regalen und Füßen ist für mich reine Konzentration. Aber nach 4km Walking war ich nicht bereit aufzugeben und sagte das dem sehr freundichen Burschen, der sich zwar entschuldigte, als ich ihn auf die erhöhten Schwierigkeiten für seheingeschränkte Menschen hinwies, der aber keine Idee für die Lösung meines Problems hatte. Im Laden war dann alles gleichzeitig einfach und zutiefst demütigend. Keiner wollte niemandem nahkommen, das nahe Halten unbekannter Produkte an die Augen löste in mir Unbehagen aus, da ich ja potenziell dieses Produkt mit meinen Tröpfchen verseuchen könnte, und jemanden zu fragen, ob der von mir ausgewählte Eisbergsalat frisch aussieht, war natürlich undenkbar. Ich stellte mir kurz vor, ich würde ihn einer Person, die gebührenden Abstand zu mir hielte, zuwefen und ihr zuschreien, sie möge doch so nett sein und ihn auf faule Stellen inspizieren. Aber wie bekäme ich ihn zurück, bin ich doch im Fangen schon im Sportunterricht ne Null gewesen. Naja, das auch undenkbar, hatte ich ja keine Handschuhe an. Einziger Höhepunkt das nahezu leergekaufte Regal mit Teigwaren, so schnell habe ich meine Kichererbsen-Spirelli noch nie gefunden, waren sie doch zwischen den Lücken leicht identifizierbar.
Auch den Gang nach Kanossa, zur Kasse, hatte ich mir vorher ebensowenig überlegt wie die Konsequenzen des Abstandes von 1,5m zwischen mir und meinen Mitmenschen. Nachdem ich, natürlich folgsam meinen Abstand haltend, einer Person hinterhergeschlichen war, die offensichtlich zur Kasse wollte, stand mitten im Gang ein kniehoher Aufsteller, der eine Botschaft, offensichtlch Handlungsanweisungen, aufwies. Gewusst habe ich das natürlich nicht, nur aus dem Kontext heraus erschloss sich mir, dass es wohl kein Werbeschild sein könnte. Nachdem ich mich heruntergebeugt und das Schild womöglich mit meiner Nase infiziert hatte, war ich nicht sehr viel schlauer, denn es wurde auf für mich nicht existente Markierungen hingewiesen, die sich am Fußboden befänden und die eingehalten werden sollten. Ja, schön, dachte ich, sagte zu dem hinter mir stehenden Jüngelchen (an seinem Gequengel am Smartphone akkustisch eindeutig identifizierbar), ich könne die Markierungen nicht sehen. Ich weiß nicht, ob ich laut genug gesprochen habe, ich weiß nicht, ob sonst jemand in der Nähe war, denn ab 1,5m ist niemand mehr in meiner Nähe. Auf jeden Fall reagierte niemand auf meine Frage und Bitte, es handelte sich bei meiner Äußerung um nichts mehr als um einen Schwall ins All. Meine Unsicherheit und den angesichts der drohenden Ausgangssperre etwas bizzar klingenden formulierten Wunsch „ich will nach Hause“ niederringend versuchte ich daher, die Frau vor mir nicht aus dem Auge zu verlieren und alles korrekt nachzumachen, was sie tat. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass es keine Trennschilder mehr gibt, welche den einen vom nächsten Einkauf abgrenzen, wartete ich auf eine Aufforderung der Kassiererin, die sonst immer kommt, wenn ich mit Langstock einkaufen gehe, die Waren auf das Band zu legen. Aber auch diese war offenbar von der Situation gänzlich überfordert, versteh ich ja auch alles. Nachdem die Prozedur des Einschichtens der Waren in den ungeliebten Wagen und des Bezahlens abgeschlossen waren, sah ich mich einem weiteren Problem konfrontiert. Die Waren mussten ja nun noch in meinen Rucksack gepackt werden, doch gab es keinen Platz, an dem ich das in Ruhe erledigen konnte: Überall dort, wo ich einen freien Ort erspähte, der nicht den Weg der anderen Einkäufer_innen versperrte, stand ein Mensch, und dann musste ja erst mal wieder Abstand gehalten werden. Bis ich endlich registriert hatte, dass sich andere Menschen eines frei gewordenen Platzes bemächtigten, obwohl ich wartend in der Nähe stand, verging eine ganze Weile. Da ich aber inzwischen wieder quietschfidel am heimischen Küchentisch sitze, dürft Ihr getrost davon ausgehen, dass ich auch diese Herausforderung mit Zeit und Geduld gemeistert habe.
Fazit: Das mache ich nicht mehr. Eine neue vorherige Analyse jeder meiner Ausflüge wird künftig vonnöten sein, ich werde mir Pläne B für jede Situation im Kopf zurechtlegen müssen, die mit Hilfestellungen von Menschen verbunden ist, die ich im Alltag bisher in Anspruch nehmen konnte. Der Verlust meiner Autonomie ist der Preis, den ich während dieser Krise zu zahlen haben werde, und dieser ist nicht ganz so niedrig. Gerade in dieser Minute stelle ich fest, dass mein Lieblingstee nur noch in homöopathischen Dosen in der Teedose vorhanden ist, jetzt nicht einfach rasch selbst in den Supermarkt zu springen, ärgert mich. Der Impuls, es selbst zu versuchen, ist ungemein dominant, doch ich werde ihm jetzt nicht mehr nachgeben. Also entweder darauf verzichten oder jemanden bitten ihn zu besorgen (undenkbar, jemanden nur für Tee zu behelligen). Wie sehr ich die Bitte um Hilfe verabscheue, hab ich vielleicht das eine oder andere Mal hier schon erwähnt. Aber irgendwie ist es jetzt auch ein klein wenig anders: Soviel mehr Menschen brauchen gegenwärtig Hilfe oder bieten diese an. Vielleicht wirkt diese Form der sozialen Verantwortung und des gegenseitigen Aufeinander-Achtgebens angesichts einer Krankheit, die jede_n von uns treffen kann, auf unsere gesamte Gesellschaft ein, warten wir‘s ab.
Ich muss über mich selbst den Kopf schütteln. Denn offenbar ist es eine Sache, in den News von dem physisch einzuhaltenden Abstand zwischen Menschen zu lesen, und eine ganz andere, sich die Konzequenzen daraus für das eigene Leben zu vergegenwärtigen. Schließlich weiß ich doch, ab welchem Abstand ich mich von anderen Menschen optisch abgeschnitten fühle, ich hätte nun wirklich darauf kommen können, dass 1,5m für mich der kommunikative Overkill sind. Aber ganz ehrlich, wie weit weg 1,5m sind, war mir vorher nie so präsent. Nagut, diese Lektion hab ich gelernt.