Fernab aller Generalisierungen versuche ich heute einmal ein Thema anzuschneiden, das schmutzig werden könnte. Ich werde mich also um political correctness bemühen und betone hiermit noch einmal in aller Klarheit, dass es sich nur um meine einzelne Meinung handelt, die ich kundtue. Diese beruht auf (Selbst)Beobachtung, Erfahrung und einer Brise Logik sowie einer gehörigen Portion Pragmatismus.
Im Kontrast zu anderen Lebenswelten werden manche Statements plakativer, so sei mir zu Beginn eine Anekdote aus meiner frühen Jugend gestattet. Fern vom wohl behüteten Elternhaus mal Ferien zu machen ist bestimmt ein Traum vieler Kinder. Der meine ging damals in Erfüllung, als ich mit meinem großen Bruder gemeinsam in ein Zeltlager bestehend aus Behinderten und Nicht-Behinderten fahren durfte. Ich muss so zehn, elf Jahre alt gewesen sein, und es war der Himmel, einmal 2 Wochen der elterlichen Kontrolle zu entfliehen. Vorher waren es christliche Blindenchorfreizeiten, die ich mit Muttern zu absolvieren hatte. Nun, in diesem Zeltlager herrschte ein buntes Treiben aus Rollstuhlfahrer_innen, Blinden, Sehbehinderten, Gehörlosen und nicht versehrten Kindern. Wir waren in Teams organisiert, in denen stets nicht behinderte mit mind. 2 unterschiedlich behinderten Kindern zusammen tägliche Aufgaben zu erledigen hatten. Das konnte Spülen, Klos putzen, Müll wegbringen sein, wir waren für einander verantwortlich, mussten einander unterstützen und lernten auf diese Weise jede Menge voneinander. Als einziges, wenn auch nicht gerade heiteres Beispiel ist mir der Toilettengang mit einer Rollstuhlfahrerin aus unserer Gruppe in Erinnerung. Ich sehe heute noch die buschigen hochgezogenen Augebrauen unseres Nichtbehinderten, Christoph, er war vielleicht so 16, als er angestrengt und gleichzeitig peinlich berührt bemüht darum war, der Rollifahrerin ihre Intimität zu lassen und sie gleichzeitig auf der improvisierten Toilette festzuhalten, während ich dieses auf der anderen Seite tat. Also durchaus auch herausfordernd war es auf diesem Zeltlager.
Nach der Freizeit lauschte ich einer Unterhaltung meiner Mutter mit dem obersten Verantwortlichen. Er meinte, die Blinden und Sehbehinderten seien in diesen Konstellationen von Behinderten und Nicht-Behinderten überhaupt kein Problem, zumeist seien sie alle hoch soziale Wesen. Mit den Gehörlosen indess sei der Umgang sehr viel schwieriger, da sie ihre Unsicherheit nicht kommunizieren sondern in Aggression und Misstrauen umwandelten, weil sie nie wüssten, worüber gesprochen werde. Noch während dieser Unterhaltung fuhr an den beiden Unterhaltenden ein Rollstuhlfahrer vorbei und bog auf einen Weg ab, über den ein relativ großer Ast quer lag. Meine Mutter wollte hinzuspringen und den Ast aufheben, der Zeitfreizeitgestalter hielt sie mit den folgenden Worten zurück: „Lassen Sie den liegen, der liegt da genau für diesen Jungen, damit er dieses Hindernis selbständig überwinden kann.“ Damit meinte er nicht die absichtliche Platzierung dieses Hindernisses sondern sein Vorhandensein als Möglichkeit, eine Herausforderung des Lebens anzunehmen und zu meistern.
Während meine Mutter noch heute den ersten Teil dieser Geschichte reproduziert, um mich und wohl eher sich dafür zu trösten, dass sie ein versehrtes Kind hat, erinnere ich mich vor allem an die Geschichte mit dem Stock. Wahrscheinlich hat, das hat die Wissenschaft längst bewiesen, die Geschichte so nie stattgefunden, unverlässlicher als Zeitzeug_innen ist kaum jemand. Spielt aber in diesem Zusammenhang keine Rolle. Denn worauf es mir ankommt, sind die Herausforderungen, die tatsächlichen und die imaginierten, mit denen ein versehrter Mensch, egal, welche Versehrtheit er hat, umgeht und welche Handlungsstrategien er sich bewusst oder unbewusst aneignet, die seinen Charakter beeinträchtigen.
Darf ich als Frau, die oftmals auf Hilfe angewiesen ist, eine unfreudliche, grantige, aggressive Person sein? Wird mir auch dann noch Hilfe zu Teil, wenn ich nicht die wonnige, sonnige, empathische Person bin, als die ich mich in Szene setze? Habe ich gar die Maske von Witz und Freundlichkeit allein deshalb aufgesetzt, damit es den Menschen leicht fällt mir zu helfen? Habe ich sie früh gelernt zu tragen, bis sie zu einem Teil von mir geworden ist? Habe ich aus Angst, dass mir Hilfe verweigert wird, bewusst oder unbewusst beschlossen, ein richtig netter Mensch zu werden, aber so richtig nett? Hat die Tatsache, dass ich immer wieder mal Hilfe werde in Anspruch nehmen müssen, mich zu einem hochsensiblen Menschen für die Bedürfnisse anderer gemacht, damit es wenigstens eine Form von Ausgleich in dieser machtungleichen Beziehung gibt? Du hilfst mir, ich helfe Dir, jede_ r wie er oder sie kann. Du liest mir kleine Schrift vor, ich höre Dir genau zu und befasse mich mit Deinen Angelegenheiten über Gebühr. Dann merkst Du am Ende gar nicht mehr, dass es sich eigentlich um eine ungleiche Beziehung zwischen uns beiden handelt. Ich weiß nicht, wie oft mir Menschen schon bestätigt haben, dass Hilfe selbstverständlich ist. Warum nur kann ich das nicht glauben? Kann ich deshalb nur sehr schwer „nein“ sagen, wenn mich jemand um Hilfe bittet? Habe ich im Hinterkopf stets die Sorge, dass mir zu einem anderen Zeitpunkt wichtige Hilfe verweigert wird, sollte ich einmal ablehnend reagieren?
Ich meine, heutzutage ist das ja alles so einfach geworden im Vergleich zu vor 20 oder 30 Jahren. Nur inadäquate und völlig überdimensionierte Hilfsmittel zum Lesen, nur stationäre Telefonzellen, wenn ich mich verlaufen hatte, und dazu natürlich keinerlei Lobby für Menschen mit special needs. Ein Sonderling zu sein war mühsam bis unerträglich und führte oft zu selbstzerstörerischen Gedanken. Denn Hilfe hatte damals noch eine ganz andere Frequenz, strukturierte nicht selten einen Tagesablauf. Das kindliche und jugendliche Ringen um Autonomie, die Phase des täglichen Sich-Ausprobierens, die jeder Mensch in seiner Entwicklung durchläuft, wurde potenziert um die Unsicherheit gegenüber den eigenen Fähigkeiten. Welche Spuren im Erwachsenen haben diese Prozesse hinterlassen?
Natürlich geht es hier um mich, aber ich frage mich doch, inwiefern solche Überlegungen zumindest ein kleines Stückweit generalisierbar sind. Sind Blinde und Sehbehinderte in der Regel hochsozial kompetente Menschen? Und sind Gehörlose hochgradig misstrauisch, glauben nicht an die Verbindlichkeit und den Wahrheitsgehalt des gesprochenen Wortes und fühlen sich umzingelt von unhörbaren und unerhörten Worten? Sind Rollstuhlfahrer_innen gewohnheitsmäßige Kämpfer_innen, die jede Hürde für sich beanspruchen, um sich und ihrer Umwelt ihre Unabhängigkeit zu beweisen?
Ich möchte hier nicht feststellen, dass es die Gesellschaft ist, die etwas und jemanden aus ihren Behinderten macht und dann selbst schuld ist, wenn diese sich nicht so verhalten, wie es in das Raster passt. Schließlich ist ja jeder Mensch immer die Summe seiner Teile, hat genetische Anlagen, eine familiär stimulierende oder hemmende Umgebung, die ihn prägt etc.
Aber an dieser Stelle erlaube ich mir darüber nachzudenken, ob ich ohne Versehrtheit auch ein so zugewandter Mensch wäre, mit dem sich andere gern umgeben, weil ich witzig und einfühlsam sein kann, weil ich ihnen viel Platz einräume. Keine Ahnung, jede_r von uns findet ja letztlich seine und ihre ganz eine Strategie, um sich die Unwelt zu Willen zu machen.
Übrigens ist mir an dieser Stelle ganz klar, dass nicht die Behinderten allein den Anspruch darauf erheben dürfen, dass sie von der Umgebung geformt werden. Ganz klar, jeder Mensch wird das. Ich will hier auch nicht davon sprechen, dass wir behinderten Menschen diesbezüglich Opfer sind, die sich aufgrund ihrer Bedürfigkeit besonders stark an genormte Regeln anpassen müssen, weil uns sonst Hilfe verweigert wird. Ich stelle mir nur Fragen, warum jemand so oder so ist. Ich bin nämlich der Auffassung, dass Einschreibungen in die kindliche Seele, egal ob es sich um Anders-Erfahrungen aufgrund von Krankheit, Scheidung der Eltern, Hautfarbe, Religion oder was auch immer handelt, dauerhaft im Handeln prägen. Und wenn jemand weiß, dass er sein Leben lang auf das Wohlwollen anderer angewiesen sein wird, hat das Konsequenzen auf seine charakterliche Entwicklung?
Wieviel Hilfe anderer ist nötig, wieviel Autonomie möglich? Wenn ich an all die Menschen in meiner Umgebung denke, wie ungern und selten sie sich helfen lassen, dann komme ich unweigerlich zu dem Schluss, dass Hilfe anzunehmen stark mit dem Bestreben nach Autonomie verknüpft ist. Und mit Stolz.
Es ist dieser Balanceakt, gleichzeitig stolz zu sein, Hilfe dennoch zu benötigen und diese Bedürftigkeit In ein akzeptables Maß an sozialem Kontakt zu transferrieren, die mich wohl zu einem zugewandten Menschen gemacht hat. Aber zum Stolz ein andermal.