Es ist klar und muss hier hoffentlich nicht wiederholt werden, dass sich das Leben als versehrter Mensch in einer Umgebung frei von offenkundlgen Einschränkungen dieser Welt unterwerfen muss. Je höher das Anforderungsprofil dieser Umgebung ist, umso rarer sind die Nischen, in die sich der versehrte Mensch flüchten kann. Ich selbst grabe mir solche Kammern selbst, trete für Rücksicht und Empathie mir gegenüber vor andere Nicht-Versehrte, lade sie in die von mir zurechgenagten Nischen ein, fordere ihnen Eigenschaften ab, die in ihrer und meiner Umgebung ansonsten nur wenig Platz einnehmen dürften. Ich glaube, weiß es aber nicht, dass diese Anlagen und vielleicht auch Wünsche ebenso in den Nicht-Versehrten aktiv sind, dass die Umgebung sie aber nur zu einem gewissen Maß erlaubt. Arbeite ICH langsam, kann ich mich in die Nische „ich lese das nicht so rasch“ begeben und erzeuge Verständnis. Führe ICH jemandem vor Augen, dass meine Möglichkeiten und meine Fähigkeiten nicht miteinander übereinstimmen, indem ich den Nicht-Versehrten begreiflich mache, dass ich nicht einfach im Ausland arbeiten, eine Habilitation schreiben etc. kann, weise ich sie gleichzeitig auf ihr Privileg, nicht versehrt zu sein, hin. Ziemlich unangenehm für meine Mitmenschen, schätze ich mal. Ich selbst denke oft genug darüber nach, wann ich etwas wirklich nicht leisten kann und wann ich eine bequeme Ausrede verwende, um mich der Umgebung ein Stückweit zu entziehen. In meinem sehr beshäftigten Alltag ist leider oft genug keine Zeit, Arbeitsabläufe einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, um meinen Umgang mit ihnen ausreichend zu reflektieren. Die Best-Practice-Beispiele der Kolleginnen und Kollegen passen zumeist nicht zu meinen Fertigkeiten, so dass ich auf meine eigene Kreativität zurückgreife, um Alternativen für einen bestimmten Ablauf zu entwickeln. Ich beschwere mich nicht über diese Tatsache, habe ich mir doch diese Umgebung bewusst oder unbewusst ausgesucht, verlange nach ihren Herausforderungen und ziehe einen großen Teil meines Selbstbewusstseins aus ihr.
Aber manchmal am Tag, auch wenn ich diesem Gefühl absichtlich wenig Raum zubillige, kratzt ein Bedürfnis an meiner Wahrnehmung, wie meine Umgebung meine eingeschränkten Möglichkeiten auffangen würde. Niemals würde ich diese Wünsche formulieren, denn die Erfahrungen damit haben mir gezeigt, dass sie ausgesprochen und gehört eine verschwindend geringe Haltbarkeit im Bewusstsein der anderen haben. Ich verlange hier die Quadratur des Kreises, denn einerseits wünsche ich mir einen sorgfältigen Umgang mit meiner Versehrtheit, andererseits ist genau dieser wiederum ein Greuel für mich. Denn er zwänge andere Menschen, sich mir gegenüber anders zu verhalten als Nicht-Versehrten, also ihresgleichen gegenüber. Das wiederum würde mich noch mehr von anderen abtrennen und verbesondern, und dagegen kämpfe ich ja ständig.
Heute male ich mir und Euch aber einmal eine Welt, die meinen Alltag verschönern würde. Manchmal passiert die Erfüllung solcher Wünsche unaufgefordert und macht meinen Tag hell und luftig, und manchmal spüre ich nur ganz tief drinnen, wie wieder mal eine gegenteilige Reaktion mein Gemüt verfinstert.
In meiner fiktiven Welt fragt mich niemand danach, ob ich diesen oder jenen Schauspieler_in kenne, für mich sehen sie alle gleich aus. Die Stimmen unterscheiden sich, aber meist handelt es sich um mehrfach tätige Synchronsprecher_innen. In meiner Welt spielen Schauspieler_innen keine Rolle. Wie sie aussehen, ist ebenso unwichtig für mich wie die unterschiedlichen Rollen, die sie einnehmen. Schade, dass ich mich bisher mit niemandem über gute oder schlechte Vorleserinnen und Vorleser von Hörbüchern unterhalten konnte. Hier habe ich viele fein verästelte Kriterien, wie Sprecherinnen und Sprecher lesen müssen, und hier finde ich meine wahren Heldinnen und Helden. Sie sind analog zu den Schauspielerinnen und Schauspielern der allermeisten Menschen für mich. Schade nur, dass fast niemand sich aufs Hörbuch hören einlässt, weil es eben Filme gibt.
In meiner Welt begrüßt mich niemand, der meinen Alltag nicht teilt. Ich gehe durch meine Welt mit einer personellen Landkarte. Das bedeutet, dass ich genau weiß, es mir aber oft ganz bewusst ins Gedächtnis rufen muss, wen ich in welcher Sitzung, bei welcher Tagung, in welchem Stadtteil, auf welcher Straße treffen könnte. Nanche Menschen erkenne ich dennoch, den genauen Parametern habe ich noch nicht ausreichend nachgespürt, weil sie so heterogen sind. Manchmal erkenne ich meine beste Freundin nicht auf dem Flur, wenn sie schweigend bei einer Gruppe steht, ich sie an diesem Tag noch nicht gesehen und ihre Kleidung noch nicht eingespeichert habe. Manchmal erkenne ich einen Menschen, den ich nur alle drei Monate treffe. Die Stimme ist dabei in meiner Wahrnehmung zwar wichtig, hat aber als einziges eindeutiges Identifikationsmerkmal keinen Bestand. Zu groß sind die akustischen Irritationen der Umgebung, um ein Stimmprofil separiert einspeichern zu können.
Mein Büro hat einen kleinen Vorraum, durch den man zwei Schritte in mein eigentliches Zimmer zurücklegen muss. Das bedeutet, ich kann, wenn eine Person meinen Raum betritt, gar nicht sehen, wer reinkommt, niemand könnte das. Diese Woche hat eine Studentin bei mir geklopft und noch bevor sie mein eigentliches Büro betreten hat schon ihren Namen genannt. Unaufgefordert. Innerhalb von zwei Minuten konnten wir ihr Problem klären, ich konnte mich ausschließlich darauf konzentrieren, ohne vorgeben zu müssen zu wissen, wer sie ist. Ein lichter Moment.
In meiner Welt zeigt mir niemand unaufgefordert ein Foto oder eine Präsentation. Und wenn ich darum bitte, dann nie ohne begleitende Erklärung. In meiner Welt wäre es himmlisch, ein Foto gezeigt zu bekommen, auf dem die groben Umrisse schon mal vorbeschrieben wurden. „Das schwarze da links ist die Oma, das weiße da rechts bin ich im Kinderbett“ Und dann kann ich selbst wählen, was ich auf diesem Foto (sind ja zumeist Smartphone-Fotos) vergrößern möchte.
In meiner Welt ruft mir jeder x-beliebige Fahrgast im Bus beim Aussteigen zu: winzige Stufe, hohe Stufe, Riesenschritt. Wohl gemerkt, er oder sie ruft nicht Achtung, Vorsicht oder Obacht. Eine Angst weniger für die Seele, eine Erschütterung weniger für den Körper, den ich nicht auf den Fuß fallen lasse, indem ich mein Gewicht so lang in der Luft halte, bis der Fuß den Boden berührt hat.
In meiner Welt zieht mich niemand über eine rote Ampel, weil er oder sie genau weiß, dass meine Angst vor dem Verkehr so tief sitzt, dass dieses Über-die-Straße-Ziehen für mich Stress bedeutet. Und der ist nicht abbaubar, weil der nächste Stress schon wartet. Das kann ein anderer Fußgänger sein, eine Mülltonne, die drei Zentimeter zu weit auf den Bürgersteig ragt, ein auf dem Boden befindliches Objekt, das nicht als flach, hoch, rund oder nachgiebig identifiziert werden und daher womöglich zum Straucheln führen kann.
In meiner Welt verlangt niemand von mir ein gehaltvolles Gespräch, wenn ich gemeinsam mit anderen abends nach Hause gehe. Dunkelheit bedeutet Stress.
In meiner Welt sagt niemand „Ich weiß, Du siehst das jetzt nicht, aber drüben steht…“ Warum kann dieser Satz nicht einfach mal runtergeschluckt werden? Ganz einfach, weil sich jemand dann konzentrieren müsste, wie er oder sie mit mir in jedem Moment umgehen muss. Ich kann keinen Anspruch erheben auf ein Verhalten anderer mir gegenüber, auch wenn ich selbst zumeist genau das tue. Ich sage nicht: „Das und das seh ich gerade nicht, geh nicht so schnell, beobachte mich nicht, wie ich meinen Nasenring an die richtige Position rücke, eine Unreinheit im Gesicht berühre, an einem Fleck an meinem Pullover herumkratze… Ich sehe nicht, wenn Du das machst, also weiß ich nie, dass man sowas nicht in Anwesenheit anderer macht und vergesse, dass man es eben nicht tut.“
In meiner Welt tut niemand meine zahlreichen Ängste ab. Ich bewege mich vorsichtig, wenn ich Gläser in der Hand halte, denn wenn ich allein bin und eines runterfällt, finde ich nicht alle Scherben und trete in vergessene. Ich habe Angst vor dem Schneiden mit Messern, denn wenn ich mich schneide, weiß ich nicht, ob nur die Oberfläche der Haut eingeritzt oder der halbe Finger ab ist. Ich habe Angst vor spritzendem Fett, denn ich fühle es nur, habe es noch nie auf Kleidung oder Fußboden gesehen, rutsche vielleicht darauf aus, trage es an meinen Schuhen durch die gesamte Wohnung.
In meiner Welt kommentiert niemand meine Erzählungen, wenn ich im Supermarkt etwas nicht gefunden, mich verlaufen habe, etwas nicht lesen konnte, meinen Lippenstift falsch gemalt habe, mit dem Ratschlag: „Dann lass dir doch helfen.“ So oft ich angwiesen auf Hilfe bin, so oft ich mich dadurch gedemütigt und abhängig fühle, so stark ist das Bedürfnis, in einer für mich nicht gemachten Welt so unabhängig wie möglich zu sein. Und warum das? Weil Hilfe keine Selbstverständlichkeit ist.
Die Diskrepanz zwischen der Welt, wie ich sie mir wünsche, und der, wie sie sich mir jeden Tag präsentiert, klingt trist, ist aber auch steter Ansporn über das scheinbar Normale nachzudenken