Immer wieder bin ich unschlüssig, ob ich an diesem Blog weiterschreiben soll. Ncht weil mich seine Profanität und seine wiederkehrenden Themen langweilen, das ist zwar immer mal wieder ein Gedanke, aber nein, es hat mit dieser Identität zu tun, die ich hier breit trete und die dadurch in meinem alltäglichen Denken und Handeln noch viel präsenter wird und die ich dadurch wieder und wieder erzähle und mich damit auch reduziere.

Der Mensch kann viele Identitäten parallel in Anspruch nehmen, gleichzeitig kann er Bayer, Deutscher, Vegetarier, Intellektueller, Musiker etc… sein und sich der Gruppe zugehörig fühlen, deren Stärke er in der akuten Situation benötigt. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat mich auf diese Idee gebracht, dass es sich hierbei nicht nur Identitäten handelt sondern um Geschichten, die sich ein Mensch erzählt, um sich identitär zu verankern. Eine gewisse Widersprüchlichkeit ist dabei völlig unvermeidbar und fällt nur dann auf, wenn die Grundzüge einer bestimmten Geschichte besonders offenkundig sind und anderen Geschichten gänzlich entgegenstehen. Mit Sicherheit entkleiden wir solche Brüche eher bei anderen als bei uns selbst: Wie kann ein wahrer Christ töten? Warum verlangt eine im Herzen stolze Marxistin geliehenes Geld bis auf Heller und Pfennig zurück und hat kein entspanntes oder gar verschwindend geringes Interesse an der Rückzahlung? Warum ist ein Philanthrop aggressiv gegenüber Mitmenschen? Menschen ordnen ihre Geschichten also ihren Zielen unter und legitimieren diese durch die jeweils passende Identitätserzählung.

Ich habe die ersten 40 Jahre meines Lebens damit verbracht, die sehbehinderte Identität zu verschleiern, zu leugnen und zu kompensieren, indem ich freundlich, gutmütig, ehrgeizig und maximal anpassungsbereit war. Danach erst habe ich begonnen, die Geschichte der Behinderung meinen Identitäten aktiv hinzuzufügen. Ich habe die Tatsache des schlecht Sehens damit von ihrer Allmacht und Intimität befreit, ich erklärte mich allmählich bereit dazu, sie nicht als persönlichen Makel zu akzeptieren sondern als eine Variable, die mein Leben rahmt, nicht nur einschränkt. Ich habe aufgehört mich für nachvollziehbares Fehlverhalten zu schämen sondern fügte diese eine Erzählung meiner Alltagsrealität hinzu und wehrte mich nicht mehr gegen diese Determinante.

Klingt abstrakt und langweilig, kein Problem. Früher bin ich oft gestolpert über Stufen, Schwellen, Müll auf der Straße, durch Wurzeln der Bäume verursachte Erhebungen auf dem Bürgersteig. Wenn ich wieder mal strauchelte, war meine erste Reaktion Scham, Ärger und die Sorge, ob mich jemand bei dieser Tölpelei beobachtet hatte. Ziemlich dämlich, ausgerechnet an sowas zu denken, sah ich doch die potenziellen Beobachter_innen nicht. Auch das dachte ich schon früher und ärgerte mich noch mehr, vor allem über die Unabänderlichkeit des Stolperns, des Nicht-Sehens der Beobachter und letztendlich über mein eigenes Gedankenkarusell. Der nächste (oder zeitgleiche?) Gedanke war, warum bist du jetzt gestolpert, hier war doch gar nix. Was hat dein Stolpern verursacht? Woher kommt die Veränderung im Boden, warum hast du dich nicht an die Schwelle erinnert, die kennst du doch schon etc. pp.

Heute hat sich da eine Menge verändert. Ich stolpere noch genauso, ärgere mich noch immer, aber ich gehe nicht mehr mit mir ins Gericht, vielmehr erkläre ich mir mein Straucheln mit der Erzählung des schlecht sehens und lasse den Gedanken danach recht schnell wieder fallen. Im Gegensatz zu früher entwerfe ich bei solchen Missgeschicken inzwischen recht häufig eine Welt, wie sie nach meinen Bedürfnissen aussähe: ohne Stufen, nur allmählich ansteigenden Rampen, breiten Straßen, auf denen sich Menschen bequem ausweichen könnten, so dass auch die Hecken oder in den Weg hineinragende Äste nicht so akurat gestutzt sein müssten, akustische Signale, wo sich keine Treppen vermeiden lassen oder zumindest kontrastreiche Gehweg- und Straßenbeläge… Ich könnte für Gebäude, Supermärkte, freie Gelände, ja, ganze Städte Pläne entwefen, die das ästhetische Empfinden eines jeden Nichtbeeinträchtigten wahrschein erschauern ließen, und natürlich weiß ich das. Früher hab ich mich darüber geärgert, wenn ich etwas nicht oder falsch gesehen habe, heute ärgere ich mich nur noch halb soviel, wundere mich eher und mache mir zum Beispiel über die Aussagekraft von Farben Gedanken, deren geringer Einsatz gerade in der Gestaltung des öffentlichen Raums ich nicht begreife. Farben erkenne ich nämlich sehr gut, wenn sie sich nur stark genug vor einem Hintergrund abheben, und ich habe bei ihrem Anblick Assoziationen, die sich hinter meinem Farbempfinden verbergen. Sind diese Assoziationen individuell oder kulturell erlernt? Wann ist eine Farbe so sehr in meinem Kopf verankert, dass ich alles, was in der gleichen Farbe ist, für dieses Objekt halte oder von ihm ausgehe?

Auch hier wieder ein Beispiel: Ich habe ein pink-schwarzes Brillenetui für meine Lesebrille. Sehe ich pink-schwarz in meiner Wohnung, ist der erste Impuls, das dies mein Etui ist.

Sehe ich in einer anderen Umgebung einen Gegenstand gleicher Farbe, assoziiere ich damit immer mein Etui oder nur in einem bestimmten Kontext wie dem Büro oder dem Handtuch auf dem Rasen, weil ich da immer was zu lesen dabei hab? Darf ein Brillenetui, das ja eine relativ begrenzte Lebenszeit hat, überhaupt so dominant sein? Kann ich Einfluss auf meine farbliche Erinnerung nehmen oder vollzieht sie sich gemäß meiner Notwendigkeit, das Etui immer wieder zu finden?

Hach, heute mute ich Euch eine Menge zu. Ist alles so theoretisch. Eigentlich war ich ja von der Frage ausgegangen, ob es mir guttut, die Identität des schlecht sehenden Menschen so herauszukehren. Jetzt, nachdem ich dies niedergeschrieben habe, bin ich schon wieder davon überzeugt, dass es meinen Blick nicht nur in eine Richtung lenkt, aber oftmals fühlt sich diese Identität zu dominant an, sie entschuldigt mir zu viel, ich bin nicht zufrieden damit. Zuviele Erklärungen für mein Verhalten beginnen mit der Legitimation „ich sehe schlecht, daher mach ich dies oder jenes so oder so, kann ich das oder dies nicht“ etc. Davon möchte ich wieder ein wenig Abstand nehmen. Schließlich ist es nur eine Erzählung meiner Identität, und ich möchte auch den anderen wieder mehr Raum zugestehen, denn diese Geschichte ist immer eine exklusive, also eine ausschließende Geschichte, die mich von anderen Menschen trennt. Die Frage, ob ich dies heute noch brauche, nehme ich mal mit in diesen Sonntag.

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