Oft wundere ich mich über die Welt, meine Wahrnehmung, die Bedeutung von Sehen und die Unbekümmerten. Gestern fiel das mal wieder alles zusammen auf der Sight City, jener Hilfsmittelmesse für Blinde und Sehbehinderte, zu der in den letzten drei Tagen aus vielen Teilen der Welt Menschen anreisten, um ihre Produkte vorzustellen oder um für ihre Bedarfe Produkte zu finden.
Ich frage mich dabei, ob das Format Messe für einen solchen Austausch an Informationen geeignet ist. Es ist laut, Menschenmassen mit Stöcken, Hunden, Begleitpersonen bewegen sich entlang der taktilen Leitsysteme, überall sind es noch immer optische Reize, die an die einzelnen Stände locken… Ich gestehe es, ich bin es so leid, mich immer an der Weltsicht der sehenden großen Masse zu orientieren und genau daran meine Minderwertigkeit zu spüren.
Würde ich ein Format kreieren, auf dem Blinde und Sehende zusammentreffen, um über die Bedarfe ersterer Informationen auszutauschen, ich würde wohl eher ein anderes wöhlen. Zuerst einmal wären die Räume und Hallen nach Bedarfsgruppen gegliedert: Für Lehrer_innen gäbe es eine Halle, die von mir aus auch für Sehende ausgestattet sein könnte, also mit beschrifteten Tafeln, Bannern und all dem Firlefanz. Eine weitere Halle wäre nur für Orientierung und Mobilität, eine weitere für Alltagshilfen und wieder eine für berufliche Ausbildung oder Rehabilitation und so weiter. Es gäbe einen Audioguide wie im Museum, der nicht nur verrät, was es an welchen Stand zu erwarten gibt sondern auch wie die Person/en an diesem Stand anzusprechen sind, welche Farbe ihr Hemd hat, wo sie stehen (hier müsste das taktile Leitsystem überarbeitet werden) und in welchen Sprachen sie die Besucher_innen informieren können. Es müsste nicht mal ein Gerät sein, sondern es könnte mittels App auf der SC heruntergeladen werden.
Komplett wegfallen auf meiner Sight City würden all die Give Aways, die kleinen Schüsselchen und Schälchen mit Bonbons etc., die verwirren, anstrengen, weil man nicht weiß, was drin ist, ob sie frei verfügbar sind und so weiter.
Mittels QR-Code könnten die Besuchenden die Infos zu Materialien, die sie interessieren, akkustiv aufrufen und erst mal selbst überlegen, welche Fragen sie stellen wollen. Es gäbe einen riesigen Ruhebereich, wo lautes Reden und Handys verboten wären, so dass man sich von der immensen Anstrengung ein bisschen ausruhen könnte. Es würde viel mehr mit Kontrasten gearbeitet, akkustischen, optischen, taktilen. Und bei der Anmeldung würden die Besucher_innen einen (digitalen) Fragebogen erhalten, auf dem sie ankreuzen, wofür sie sich interessieren und den Weg angezeigt oder einen Guide zugeteilt bekommen.
Ihr seht, ich war mal wieder schwer genervt. Immer muss eine Begleitperson die Mängel der Welt ausgleichen, die meine Anforderungen nicht erfüllt, selbstverständlich ist sogar auf dieser Messe nichts. Und dabei hat nicht jeder das Glück, eine unbekümmerte und gleichzeitig so feinfühlige Asisistentin an die Hand zu bekommen, wie ich sie gestern gehabt habe.
Ein großes Problem bei Begleitungen für mich ist das „mir zuliebe“. Vor zwei Jahren wollte ich sehr gern auf das Louis Braille Festival in Marburg gehen, fand aber niemanden, der mich begleiten wollte. Ich hätte mich so gern über Schminktipps, Sportangebote, Spiele oder Tanz und Theater informiert, aber die Freundin, die ich gefragt und die mir auch erst zugesagt hatte, meinte an dem Tag: „Ach, da kannst Du doch auch allein hingehen, ich hab dazu nicht soviel Lust.“ Das sind die Momente, in denen ich verstehe, warum viele Sehbehinderte Pädagogik studieren, in dieser Peer Group finden sie unter ihren Freund_innen sicher jemanden, der sich schon allein aus beruflichen Gründen interessiert. Natürlich bin ich dann nicht auf das Festival gegangen, wusste ich doch, dass die Gegebenheiten so beschaffen sein würden, dass sie mich große Unsicherheit und Unbehaglichkeit verspüren lassen würden, müsste ich mich auf einem unübersehbaren Gelände durch viele unbekannte Szenarien bewegen. Wer möchte schon offensichtilich unsicher und ängstlich in der Öffentlichkeit auftreten, damit bietet man eine Angriffsfläche, die zusätzlich zur Bewältigung der fremden Umgebung den eigenen Stolz torpediert. Aber das ist ein anderes Thema.
Zurück zum „mir zuliebe“. Ich binde Menschen an mich, nur damit sie „mir zuliebe“ zur Verfügung stehen, wenn ich etwas von der Welt erfahren möchte? Als junger Mensch war das einfacher, junge Leute haben mehr Zeit, sind neugieriger und aufgeschlossener, aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich auch vor 30 Jahren meine liebsten Freundinnen nicht um solche Gefallen gebeten. Wäre mir doch viel zu peinlich gewesen, augenscheinlich zu einer Gruppe von schlecht sehenden Menschen dazugeordnet zu werden, die ich verabscheute, weil ich mich so sehr verabscheute in dieser Unsicherheit und Abhängigkeit von der Freundlichkeit anderer. Wenn jemand „mir zuliebe“ etwas tut, mich auf einem für mich unbekannten Weg begleitet, mir etwas zeigt oder erklärt, dann muss ich lieb und nett zu ihm oder ihr sein, denn er oder sie tut es, weil ich gemocht werde. Ich darf nicht allzu ungeduldig, unfreundlich, wütend, anspruchsvoll oder eigenwillig sein, denn dann wird mir nicht nur die Freundschaft entzogen sondern die für mich in so vielen Lebensbereichen erforderliche Hilfe.
Nun, gestern erlebte ich einen wundervollen Kontrast zum „Mir zuliebe“. Meine ehemalige studentische Hilfskraft, die mich mit einem wissenschaftlichen Projekt zu Sinn-Isolation in den letzten beiden Jahren unterstützt hatte, wurde von mir gebeten, mich nach Frankfurt auf die Messe zu begleiten. Wie erstaunt war ich, als sie dort von Anfang an in ihrer unbekümmerten Art völlig selbstverständlich aktiv und initiativ war. Sie hopste wie ein fröhliches Kaninchen von Stand zu Stand „Was ist denn das da?“, „Wie funktioniert denn dieses?“, „Können Sie mir mal erklären, wofür man das brauchen kann“…, war einfach neugierig, begeisterungsfähig und gab mir keine Sekunde das Gefühl, es ginge hier um mich um meine Bedarfe. Als ich die sprechende Brille ausprobierte, war sie selbst genauso fassungslos, was diese alles schafft und meinte danach: „Hach, wenn Dir die Brille künftig sagt, wer Dir gegenübersteht, so dass Du das Problem mit dem Erkennen von Gesichtern nicht mehr hast, dann hast Du mir gegenüber echt einen Vorteil. Ich kann mir Namen von Menschen einfach nicht merken, und sie nicht zuzuordnen ist mein größtes Problem.“ Plötzlich gehörte ich dazu, war nicht mehr das Alien, dem man einen Gefallen getan hat. Ich hatte auf einmal eine Ahnung davon, wie es ist, jemandem so zu vertrauen, dass ich nicht jede meiner Gefühlsregungen kontrollieren und überprüfen muss, ob ich noch freundlich genug bin, damit ich nicht verlassen werde.
Was bin ich doch für ein seltsames Wesen.