Ich weiß, es gibt einfallsreichere Titel. Und das umso mehr, als ich mich so lang hier nicht geäußert habe. Eigentlich schreibe ich in Gedanken schon seit einer Woche an einem Beitrag über die Unsichtbarkeit von Wasser und die Unerträglichkeit, nackte Menschen in der Sauna nicht zu erkennen, aber nun ist doch etwas dazwischen gekommen.
Das ist diese alte John Lennon Nummer: Leben ist, was passiert, während Du mit anderem Zeugs beschäftigt bist. (zit. aus „Beautiful Boy“ 1980)
Stellt Euch mal vor, Ihr müsst eine Sitzung leiten, sagen wir mal mit ca. 20 Personen. Diese verteilen sich in einem Seminarraum, in welchem im Regelfall ca. 60 Studierende Platz haben. Im Kreis sitzen Dir nun also 20 Menschen mehr oder weniger gegenüber, alle mindestens 10m von Dir entfernt. Du hast keine Ahnung, wer Dir da gegenüber sitzt, wer gerade spricht, wer von den Anwesenden fehlt… Du spielst Theater, und das musst Du verdammt gut tun, damit niemand merkt, dass Du eigentlich nur einen Bruchteil von dem wahrnimmst, was um Dich herum abläuft. Vom Augen Verdrehen über Gesten und Mienenspiel über gleichzeitiges Simsen bis hin zum Anlächeln, Du bist von Deinen Gegenübern abgeschnitten. Alles, was Du jetzt brauchst, sind starke Nerven und viel Fantasie. Die starken Nerven, um selbige nicht zu verlieren, wenn Dir ein Kommentar oder eine Sequenz der Sitzung entgeht, viel Fantasie um Dir vorzustellen, wie die Situation sich wahrscheinlich darstellt. Da links sitzt offenbar die Kollegin, mit der Du schon mal Kaffee trinken warst, die schaut Dich bestimmt wohlwollend an. Daneben, gerade hat er was gesagt, das ist also Prof. Oberschlau, der war doch immer so humorvoll und Dir zugewandt, schaut der Dich gerade an, während er Dir seine Vorwürfe zu Deinem Papier um die Ohren haut? Was für ein Gesicht macht wohl der Student da hinten, kann nur ein Student sein bei den schrillen Kleidern, die er da trägt, oder? Shit, eine Power Point, warum hat die Dir niemand vorher geschickt, hoffentlich musst Du Dich dazu nicht äußern.
Nach der Sitzung gehst Du aus dem Raum, bist darauf bedacht, niemandem ins Gesicht zu schauen, damit niemandem auffällt, dass Du ihn oder sie nicht erkennst. Deine Ohren sind nadelspitz, damit Du die bekannten von den unbekannten Stimmen filtern und etwaige Ansprachen ihrer Peinlichkeit für Dich berauben kannst. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, schlecht sehende Menschen würden sich jede Stimme im Gedächtnis einprägen, die sie auch nur ein einziges Mal gehört haben. Welch Enttäuschung „Was, Du hast mich nicht an der Stimme erkannt?“ Einer Deiner absoluten Lieblingssätze! Nicht genug, dass frau nicht weiß, wer einen da grad anspricht, nein, sofort muss sie sich schuldig fühlen, weil sie die Stimme nicht erkannt hat. Und aus der ohnedies peinlichen Situation („nein, ich weiß grad nicht, wer du bist“) wird noch eine viel peinlichere, weil Du den Skill des Ich-erkenne jede Stimme-wie-du-jedes-Gesicht-auf-Anhieb nicht beherrschst. Und schon ist der Spieß umgedreht, und der Sehende muss sich nicht mehr schlecht fühlen, weil er etwas kann, das Du nicht kannst, wenn das auch das Schicksal nur zufällig so eingefädelt hat.
Heute las ich in meiner Facebook-Gruppe alternder Sehbehinderter einen Abschnitt darüber, ob wir anderen auch so rasch ermüdet seien, wenn wir mal 10 Minuten einkaufen gehen. Die Antworten auf diesen Post waren durchgängig zustimmend, für einen Sehbehinderten sei eben alles anstrengender, auch für jegliche Freizeitaktivitäten müsse man sich mehr konzentrieren. Tja, Du bist eigentlich ständig am Rand der Maxiamlerschöpfung, da Du in einer gänzlich normal sehenden Arbeitswelt den Kasperl oder die Kasperin gibst, die schon klarkommt. Ach guten Morgen, wie gehts? (Keine Ahnung, wer war das?), ach ja, diese Arbeit hab ich schon erledigt (keinen Schimmer, ich kann diese erbärmlichen Excel-Sheats nicht lesen, wer liest mir das denn nu mal vor? Und zwar subito), haben Sie schon meine Lesenotizen korrigiert, ja klar (wo hab ich die denn nur wieder hingeworfen?)…
Was bleibt und sich den ganzen Tag nicht verdrängen lässt, ist die Frage: Bist Du gut genug für diesen Job in der akademischen Elite? Jeder Angriff auf Deine Arbeit, jeder Fehler, den Du begehst, muss erst mal von dem Behinderungs-Ballast befreit werden: Okay, da haste jetzt aber mal n echten Bock geschossen. Warum ist Dir das passiert? Hast Du vielleicht Zeichen falsch gedeutet? Warst Du zu faul, Dir die Tabellen anzuschauen, weil sie so klein geschrieben sind und bist deshalb nicht auf dem notwendigen Wissensstand? Hast Du mal wieder Dein gigantisches Gedächtnis überschätzt?
Natürlich ist nicht alles schlecht, was Dir im Alltag begegnet. Es ist total herrlich, bei brutalen Filmen die Details nicht sehen zu müssen, für Dich bohrt niemand in der Nase oder knabbert seine Fingernägel ab, prima unsichtbar. Auch können Dich Menschen nicht ignorieren, denn Du merkst nicht, dass sie Dich nicht grüßen. Klar ist es lästig, wenn Du in einer Sitzung nicht merkst, wie Du aufgerufen wirst, wie Dir beim Unterschreiben der Stift falsch in der Hand liegt und jemand sehr wohlmeinendes ihn Dir herumdreht. Aber wäre es nicht viel lästiger, die Chefin in einer Behindertenwerkstatt zu sein, intellektuell nie herausgefordert, aber immerhin zufrieden gelassen von der Welt der normal Sehenden?
Ein Gedanke zu “Arbeitsalltag und Un(i)sicherheit”